#03: Gesungheit und Wohlergehen – Luise Sachs

Willst du dich noch einmal vorstellen, wer du bist und welche Pronomen du benutzt?

Ich bin Luise. Pronomen Sie.

Und was machst du so in deinem Leben?

Ich bin Psychologin und mache gerade eine Ausbildung zur Psychotherapeutin für Erwachsene im tiefenpsychologischen Bereich. Aktuell lohnarbeite ich außerdem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und bin ehrenamtlich aktiv in der Poliklinik. Im Moment vor allem in der psychologischen Beratung.

Willst du einmal sagen, wie du bei der Poliklinik gelandet bist?

bei der Poliklinik bin ich gelandet, weil die Poliklinik auf der Veddel in Hamburg sich während meines Studiums im Rahmen von kritischen Einführungswochen vorgestellt haben. Ich fand diese Perspektive auf Gesundheitsversorgung eine totale Bereicherung, weil ich zwar das Berufsbild einer Psychotherapeutin total spannend fand, mich aber selber eigentlich nie in so einer eigenen Praxis mit Patient*innen gesehen habe. Die Arbeit bei der Poliklinik sehe ich als eine total spannende und inspirierende Möglichkeit, im Team zu arbeiten und sich nicht nur auf ein Individuum zu fokussieren, sondern mehrere Faktoren eines Menschen mitzudenken unter explizitem Einbezug der politischen Dimensionen von Gesundheit.

Was genau macht die Poliklinik, was ist euer Ansatz?

Die Poliklinik hier in Leipzig, in Schönefeld, ist ein Stadtteilgesundheitszentrum, wo wir versuchen, die Gesundheit eines einzelnen Menschen aus verschiedenen Perspektiven oder unter Berücksichtigung von verschiedenen sozialen Determinanten zu betrachten. Wir sind der Überzeugung, dass bei der Gesundheit eines Menschen nicht nur die klassisch schulmedizinischen Faktoren eine Rolle spielen, sondern auch unter anderem Diskriminierungserfahrungen, Lohnarbeit, Wohnverhältnisse, Mobilitätsmöglichkeiten, Umfeld und Familie sowie die psychische Gesundheit. In unseren Beratungsangeboten versuchen wir das mitzudenken.
Die Poliklinik in Leipzig ist noch unter dem größeren Dachverband des Poliklinik-Syndikats, den wir 2023 gegründet haben, organisiert. Das Konzept an sich gibt es aber schon länger, seit 2017 nämlich. Da wurde die Poliklinik auf der Veddel in Hamburg eröffnet und dann etwas später auch noch in Berlin. Mittlerweile sind wir über zehn Städte mit einer aktiven Gruppe und es kommen gerade immer noch mehr dazu. Mit regelmäßigen deutschlandweiten Treffen.

Was macht ihr dann konkret?

jedes Stadtteilgesundheitszentrum fängt ein bisschen anders an. In Hamburg gab es zum Beispiel ganz zu Beginn schon einen Kassensitz und dann wurde darüber die Finanzierung abgewickelt. Hier in Leipzig haben wir anders begonnen, zunächst ohne feste Räumlichkeiten, vor allem mit beratenden Angeboten – Gesundheitsberatung, Sozialberatung, psychologische Beratung. Mittlerweile gibt es auch verschiedene Alltagsangebote, zu Bewegungsschwerpunkten, Alltagsbewältigung zum Beispiel aus ergotherapeutischer Sicht, Yoga; auch eine Selbsthilfegruppe mit dem Schwerpunkt ADHS hat sich gegründet. Wir haben verschiedene Workshops, weil wir auch überzeugt davon sind, dass der Zugang zu Bildung relevant ist und im Rahmen von Workshops ganz nebenbei ein Austausch zwischen den Anwesenden entsteht, was eines unserer übergeordneten Ziele ist. Außerdem haben wir als wichtigen Kern seit zwei Jahren den Stadtteiltreff am Mittwochnachmittag, wo Menschen aus dem Stadtteil kommen und sich vernetzen. Einige der Menschen aus dem Stadtteil bieten mittlerweile auch selber Angebote an. Also IM Stadtteil MIT den Menschen und VON DEN Menschen ausgehend Angebote zu gestalten oder gestalten zu lassen, das ist uns sehr wichtig.

Eure Zielgruppe sind dann die Menschen aus dem Stadtteil?

Ja, schon überwiegend die Menschen aus dem Stadtteil. Das heißt nicht, dass Menschen nicht zu uns kommen dürften, um eine Beratung in Anspruch zu nehmen, wenn sie aus einem anderen Leipziger Stadtteil kämen. Prinzipiell wollen wir uns aber mit den Menschen aus der Nachbarschaft für den Stadtteil stark machen. Dazu haben wir zum Beispiel auch Bedarfserhebungen oder Stadtteilumfragen durchgeführt, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, was sie beschäftigt. So können wir schauen, bei welchen Themen es sich vielleicht lohnt, sie gemeinsam und laut als Gruppe anzugehen.

Was sind dann Themen, die die Menschen aus dem Stadtteil hier beschäftigen?

Das geht relativ breit. Schönefeld ist ein Stadtteil, in dem es sehr unterschiedliche Perspektiven gibt. Es gibt zum einen diejenigen, die hier schon seit zig Generationen leben, denen Traditionen wichtig scheinen, die vielleicht eher konservativ denken sind. Auch rassistische Einstellungen sind im Stadtteil teilweise sehr deutlich vertreten. Zum anderen gibt es einen relativ großen Anteil von zugezogenen Menschen, auch mit Migrationserfahrung. Das wirkt dann wie Welten, die aufeinander knallen und spiegelt sich auch in Befragungen wider. Ein Thema, was viele verbindet, ist die Sauberkeit im Stadtteil – Zum Beispiel Schimmel in den Häusern oder im Park. Orte zum Austausch werden gewünscht sowie Angebote für Kinder und Alleinerziehende.

Auf der Webseite der Poliklinik wird ein Unterschied gemacht zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention. Kannst du das noch mal erklären?

Die klassische, oft vielleicht auch neoliberal konnotierte Verhaltensprävention geht davon aus, dass ein Verhalten innerhalb eines oder ausgehend von einem Individuum verändert werden kann. Demnach ist ein Individuum selbst verantwortlich für die eigene Gesundheit, welche Schritte es geht, welche Maßnahmen der Mensch ergreift oder nicht ergreift. So wird Gesundheit als individuelle Aufgabe verhandelt und andere relevante Determinanten werden unzureichend beachtet. Menschen haben unterschiedliche Voraussetzungen, überhaupt an gesundheitsförderliche Maßnahmen zu kommen und überhaupt ein „gesundes oder soziales Leben“ zu führen. Die Verhältnisprävention geht davon aus, dass man sich eben nicht nur das Individuum anschaut, sondern die genannten sozialen Determinanten mitdenkt. Es wird verstärkt berücksichtigt, wie man präventiv an diesen Faktoren ansetzen kann, damit es dem einzelnen Individuum und vielen Individuen an einem Ort besser gehen kann.

Ein Slogan bei dem Poliklinik Syndikat, den ich auf einem Banner auf der Website entdeckt hatte, war: „Es gibt kein gesundes Leben im kranken System.“ Kannst du den Slogan noch mal erklären?

Wir gehen als Ortsgruppe oder als Syndikat davon aus, dass so, wie das Gesundheitssystem aktuell gestrickt ist, wenig auf das Wohlergehen der einzelnen Menschen eingegangen werden kann. Es ist sehr kapitalistisch und somit zum Beispiel eher auf die Fallzahlen oder die finanziellen Vorteile, die sich aus der Gesundheit eines Menschen schlagen lassen, fokussiert. Die Gesundheit eines einzelnen Menschen ist nicht losgelöst von diesem Gesundheitssystem betracht- bzw. veränderbar. Viele Maßnahmen sind sehr oberflächlich und zur kurzfristigen Verbesserung angelegt. Es braucht gerade weitreichendere Maßnahmen, als nur zu sagen, hier ist ein Programm Ihrer Krankenkasse, machen Sie diesen RückenFit-Kurs, dann geht’s Ihnen besser. Zusätzlich sollte hinterfragt werden, wie die Krankenkassen überhaupt organisiert sind. Wie es dazu kommen kann, dass die Profite machen. Wie Krankenhäuser organisiert sind. Warum es so lange dieses Fallpauschalen-Prinzip gab, wo oft nicht Patient*innen-fokussiert überlegt wurde, ob eine bestimmte OP zum Beispiel notwendig ist, die viel Geld einbringt.

Habt ihr dann konkrete Ideen, wie man das System verändern kann?

Zum Beispiel über mehr Vernetzung in Stadtteilen, um so einer Vereinzelung entgegenzuwirken. In der psychologischen Sprechstunde merken wir zum Beispiel sehr oft, dass Menschen, die hierherkommen, sich „zu blöd“ fühlen, um einen Psychotherapieplatz zu finden. Dabei ist total klar, dass es kein Problem von Einzelnen ist, sondern dass generell dieser Psychotherapie-Suchprozess und überhaupt die Verfügbarkeit von Psychotherapieplätzen ein riesengroßes Politikum ist. Es gibt schlicht viel zu wenig durch die Krankenkassen finanzierte Kassenplätze von Psychotherapeut*innen, sodass Menschen eine von der Krankenkasse übernommene Psychotherapie in Anspruch nehmen könnten. Wenn diese Menschen bei Veranstaltungen von uns aufeinandertreffen, merken sie, dass sie nicht allein sind und organisieren sich vielleicht sogar, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Da habe ich jetzt ganz im Kleinen angefangen, aber diese Vernetzung im Kleinen, im Stadtteil ist ein wichtiger Ansatz unserer Arbeit.
Auf einer größeren Ebene gibt es zum Beispiel die Vernetzung im Poliklinik-Syndikat, wo regelmäßig Austauschtreffen stattfinden. Mit unserer Idee können wir an Forderungen von Parteien anknüpfen, die wohnortnahe und interprofessionelle Versorgung hervorheben und finden uns damit in den Forderungen von Programmen teilweise wieder, auch wenn die Umsetzung von unseren Zentren abweicht. Diesbezüglich stehen wir im regelmäßigen Kontakt. In Hamburg und Berlin gibt es jeweils Landesprogramme zur Förderung von Gesundheitszentren nach dem Vorbild der bereits bestehenden Zentren.

Das leitet sehr gut zur nächsten Frage über. Wie erlebst du so die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren im Gesundheitssystem oder vielleicht auch mit Politik, also Regierung oder Parteien?

Dazu muss ich sagen, dass Vernetzungs- und Lobbyarbeit aktuell nicht mein Schwerpunkt ist. Prinzipiell ist es oft ein Pendeln und Ausbalancieren von Ressourcen zwischen der Zusammenarbeit mit parteipolitischen Akteurinnen und dem Vernetzen mit anderen Initiativen. Es gibt zum Beispiel regelmäßige Treffen, bei denen Menschen, die gerade auf der Syndikatsebene vernetzt sind, sich regelmäßig mit Vertreterinnen aus den Landesparlamenten oder aus dem Bundestag treffen. Dabei stellen wir natürlich auch inhaltliche Forderungen und stellen unseren Ansatz dar.
Mit anderen Netzwerken oder mit anderen Initiativen in Leipzig gibt es einen relativ regen Austausch, ob das die Rosalinde e.V. ist als queerer Verein oder Mosaik e.V als Verein, der vor allem Menschen mit Fluchterfahrung unterstützt.
Die Zusammenarbeit funktioniert schon, wenngleich wir gern mehr Kapazitäten reinstecken würden und gleichzeitig gibt es immer wieder diesen Zwiespalt. Wir wollen als Gruppe mit noch immer zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeitenden nicht Lücken stopfen, die im aktuellen Gesundheitssystem nicht gut gefüllt werden.
Ein wichtiger Teil unserer Arbeit besteht demnach darin, zu schauen, wie wir auf diese Lücken hinweisen und dann lauter werden können, am besten mit Menschen aus dem Stadtteil zusammen oder mit Menschen, die hier Angebote annehmen. Wir sammeln, warum Menschen zu uns kommen, um dann nach außen zu tragen, woran es fehlt.

Was sind so Beispiele für Lücken, die dir oder euch da aufgefallen sind?

Wieder aus der Perspektive der psychologischen Beratung ist immer wieder die Frage: Wie komme ich zu einem Psychotherapieplatz? Oder: Ich finde keine rassismussensible Therapie. Das sind Themen, die auf strukturelle Lücken im System hinweisen. Ganz oft auch in der Sozialberatung, wo Menschen mit Anträgen kommen, die sie einfach nicht verstehen. Sei es aufgrund von Sprachbarrieren oder aufgrund von anderen Hürden, weil die Anträge einfach oft sehr schwer zu durchschauen sind.
Eine ganz große Stärke von uns ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Es kann sein, dass eine Person zuerst bei der Sozialberatung wegen der Wohnungssuche oder wegen Problemen mit der Hausverwaltung zu uns kommt und dann fällt in der Beratung auf, dass es auch ganz große psychische Belastungsfaktoren gibt. Dann kann die Person direkt weitervermittelt werden.

Kannst du nochmal dieses Phänomen erkläre, dass es in Deutschland so schwer ist, einen Therapieplatz zu finden?

In Deutschland ist es so: Es gibt nicht zu wenig approbierte Psychotherapeutinnen – das heißt Psychotherapeutinnen mit einer Zulassung, behandeln zu dürfen, sondern es gibt zu wenig durch die Krankenkassen zugelassene und finanzierte Kassensitze. Die Anzahl der Kassensitze wird berechnet vom Gemeinsamen Bundesausschuss und von den Landesausschüssen. Und die Zahlen sind veraltet oder auf Grundlage von nicht zutreffenden Unterstützungsbedarfen berechnet.
Es gibt von 2022 Berechnungen, dass 7000 Psychotherapie-Kassensitze fehlen und das wurde relativ laut angeprangert. Es wurde dann nachgerechnet und die Zahl wurde auf 600 bis 700 fehlende Plätzen korrigiert. Das ist in meinem Augen nicht ausreichend wenn wir uns nicht damit zufrieden geben wollen, dass Menschen zwischen fünf und neun Monaten auf einen Psychotherapieplatz warten müssen, wie das 2022 im Durchschnitt war. Und da rede ich von deutsch sprechenden Personen, die sich artikulieren und strukturieren und diesen umständlichen Weg der Psychotherapieplatzsuche überhaupt auf sich nehmen konnten.
Eigentlich steht jedem Menschen mit Bedarf ein Psychotherapieplatz zu und nach §14 SGB I auch eine Beratung dahingehend. Auch mit der neuen Reform, wurde das Problem nicht gelöst. Es braucht mehr Kassenzulassungen, damit Menschen das nicht selbst bezahlen müssen.

Merz hat ja sehr polarisiert mit seiner Zahnputzaussage. Kannst du was zu der tatsächlichen Realität für Asylbewerberinnen im Gesundheitssystem sagen?

In dieser Aussage wird erneut ein Feindbild von Asylbewerberinnen instrumentalisiert um eine real existierende Knappheit von finanziellen und personellen Ressourcen im Gesundheitssystem zu externalisieren, ohne sich mit den eigentlichen Hintergründen über den Mangel im System auseinanderzusetzen. In der gesundheitlichen Versorgung von Asylbewerberinnen, also häufig Menschen ohne klaren Aufenthaltstitel oder mit Duldung, gibt es massive Lücken, die zum Teil auf eine fehlende Aufklärung über Unterstützungsmöglichkeiten zurückzuführen sind; zum Großteil jedoch auch auf fehlende Möglichkeiten, im aktuellen Gesundheitssystem auf Leistungen zugreifen zu können. Wenn überhaupt, findet eine Behandlung häufig nur im Rahmen von Notfällen statt und bei guter Vernetzung der Betroffenen. Dass Asylbewerberinnen überhaupt aufmerksam werden auf vorhandene Angebote ist oft reiner Zufall. Die Clearingstelle für Anonyme Behandlungsscheine, die auch in unseren Räumlichkeiten verortet ist, stellt beispielsweise Behandlungsscheine für Menschen ohne Krankenversicherung, also auch für illegalisierte Menschen aus. Dabei fallen täglich genannte und weitere Missstände auf.
Darüber hinaus gibt es natürlich auch innerhalb der einzelnen Bereiche „helfender Berufe“ große Unsicherheiten im Umgang mit und fehlendes Wissen zu Menschen mit Fluchterfahrung. Denke ich an mein Psychologiestudium, war diese Thematik zum Beispiel vollkommen unterrepräsentiert und auch der Zugang für Menschen mit Fluchterfahrungen und deren Perspektiven scheint im Studium nahezu unmöglich. Darüber hinaus sind Rassismuserfahrungen und verschiedene Formen der Diskriminierung tief im Gesundheitssystem verankert, beginnend bei der Lehre und einer fehlenden Sensibilisierung. Gesundheitsschädigende Einflüsse schreiben sich demnach fort, selbst wenn Menschen einen Zugang zu bestimmten Institutionen erhalten.

Wenn, es die UN oder auch unsere Bundesregierung mit dem Nachhaltigkeitsziel ein gesundes Leben für alle Menschen ernst meinen, was würdest du ihnen sagen?

Dass sie auf jeden Fall viel mehr auf Betroffenen-Perspektiven eingehen und diese auch ernst nehmen sollten. Der finanzielle, kapitalistische Blick sollte dabei in den Hintergrund treten und stattdessen wieder die Gesundheit der Menschen in den Vordergrund gerückt werden. In diesem Zusammenhang würden wir nicht um eine radikale Umverteilung von finanziellen Ressourcen herumkommen. Sie sollten mit den Menschen sprechen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Was diese sich wünschen, was die brauchen, um gute Gesundheitsversorgung leisten zu können. Diese Perspektiven sollten dann als oberste Priorität anerkannt werden, weil die Menschen, die in den jeweiligen Berufen arbeiten oder die Menschen, die von der Gesundheitsversorgung abhängig und von den aktuellen Ungerechtigkeiten und Hürden betroffen sind, die eigentlichen Expert*innen sind.