#08: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum – Anne Häßelbarth

Wie willst du angesprochen werden?

Ich bin Anne mit dem Pronomen die. Und tatsächlich ist mir der Nachname gar nicht so wichtig. Das hat mit meiner Biografie zu tun, weil ich Nachnamen immer von Männern getragen hab. Ich trage jetzt den Namen Häßelbarth schon mit Stolz, weil ich meinen Mann sehr mag, aber vorher hab ich sehr fremdbestimmt Namen gehabt. Deshalb mag ich es eigentlich immer sehr, die Anne zu sein.

Du machst sehr, sehr viele Sachen. Hast du Lust, einmal für mich zu erklären, womit du deine Zeit verbringst?

Zeit verbringe ich sehr intensiv hier auf dem Hof in Linda. Als Mutter, als Ehefrau und Ideengeberin unserer Hofkäserei. Dort mache ich mittlerweile nur noch die Vermarktung und bin sehr gerne mit Kund*innen in Kontakt.

Das meiste Geld verdiene ich mit einer 20h-Stelle beim Bundesverband der Regionalbewegung. Das ist eine Initiative, die die Lobbyarbeit für regionale Lebensmittelwirtschaft in ländlichen Gebieten macht. Es ist ein gemeinnütziger Verein, der deutschlandweit agiert und ich bin in zwei Projekten dort angestellt.

Das eine Projekt beschäftigt sich mit Digitalisierung von regionalen Produktdaten von der regionalen Marmelade, bis zum Käse von unserem Hofladen.

Das zweite Projekt beschäftigt sich mit der Fort- und Ausbildung von Berufsgruppen, die regionale Wertschöpfungsketten in der Ernährungsbranche aufbauen, entwickeln und/oder managen. Die Motivation ist das Ökolandbauprogramm der Bundesregierung. Der politische Wille ist es, dreißig Prozent Ökolandbau bis 2030 zu erreichen. Dafür wurde eine Handlungsstrategie mit 11 Maßnahmen erarbeitet und eine dieser Handlungsmaßnahmen setzt unser Projekt um.

Außerdem bin ich Teil der Ökomarktgemeinschaft, die als GmbH & CoKG organisiert ist. Sie ist gemeinsames Handels- und Vertriebsunternehmen von elf Gesellschafter*innen, also Bio Bäuerinnen und Biobauern aus Ostthüringen und Westsachsen.

Mein Herz schlägt für das Thema, weil es viel mit, enkeltauglicher Landwirtschaft zu tun hat. Ich möchte, dass wir eine Welt hinterlassen, in der unsere Kinder und Kindeskinder noch gut leben können. Wie wirtschaften wir mit Natur, wie haushalten wir mit natürlichen Ressourcen? Das fokussiert sich bei mir auf die Lebensmittel- und Ernährungsbranche.

Darüber hinaus bin ich dann dahin gekommen, zu sagen: Wir brauchen ein anderes Wirtschaftssystem. Damit habe ich mich dann sehr intensiv auseinandergesetzt. Wie schaut Gemeinschaft aus, in der wir gut miteinander Leben und wirtschaften. Die Kenntnisse, die ich bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage erworben habe, lasse ich dann auch in mein Berufsleben mit einfließen.

Wow das ist ziemlich viel. Deine Arbeit unterscheidet sich doch sehr deutlich von zum Beispiel Aktivist*innen, die Systemwandel durch Revolution fordern. Wie würde ein anderes Wirtschaftssystem für dich aussehen und wie stellst du dir eine Transformation dahin vor?

Ich habe mit der Wende schon eine Revolution hinter mir und mit diesen Erfahrungen gepaart und mit meinem Studium der Soziologie und Politikwissenschaften, habe ich mich gefragt, was ist da passiert. Wie funktionieren Menschen miteinander?

Aus meinem Studium und vielen Jahren der Erfahrungssammlung bin ich zu der Erkenntnis gekommen: Wir müssen nicht das Format ändern, sondern die Logik. Sowohl die Logik, wie wir miteinander umgehen, als auch die Logik, wie wir miteinander wirtschaften, denn das Wirtschaftssystem ist erstmal eine Art zu verhandeln. Das neue Wirtschaftssystem ist deshalb ein gemeinschaftliches Aushandeln auf einer kommunikativen Ebene im Sinne des Gemeinsinns und des Gemeinwohls. In dem jetzigen kapitalistischen Wirtschaftssystem werden viele Dinge, die Arbeit sind, gar nicht geschätzt. Auch das muss man neu aushandeln. Deswegen also neue Werte mit einer anderen Logik. Ich bin nicht der Typ, der quasi revolutionär auf die Straße geht, um ein Format zu ändern, bin mir aber bewusst darüber, dass es auch im System Leute geben muss, die Systeme crashen. Das kann und sollte parallel laufen.

Kannst du das nochmal konkreter machen. Wie stellst du dir so ein anderes Zusammenleben vor?

Ich denke soziokratisch und Soziokratie denkt in Kreisen, in Unterkreisen und in Domains. Also es gibt zum Beispiel das Dorf Linda, es gibt eine Kommune, es gibt einen Bürgermeister. Eine Domain sind dann einmal die Ziele, Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse. In dieser Domain darf die Kommune Linda zunächst autonom entscheiden. Es gibt aber gewisse Entscheidungen, die darf die Domain Kommune Linda nicht entscheiden. Da geht es in den nächst höheren Kreis. Die Kreise sind im soziokratischen System immer doppelt verknüpft. Es gibt also eine Leitung und einen Delegierten, der im nächst höheren Kreis sitzt.

Du hast dann eine Bindung vom Kleinen zum Großen und wieder zurück. Ganz oben könnte so die Vision der Menschheit stehen: „Wir möchten als Menschengattung überleben“. Das wäre so eine Übereinkunft, auf den sich wahrscheinlich geeinigt werden kann – ähnlich wie die Nachhaltigkeitsziele. Aus diesen großen Zielen kann dann wieder zu den kleinen Kreisen geschaut und überlegt werden: Was kann die kleine Kommune Linda beitragen zu diesen großen Zielen?

Die Kreise arbeiten mit den vier Basisprinzipien der Soziokratie. Das ist einmal die sogenannte Kostenentscheidung, die Organisation in Kreisen, die doppelte Verknüpfung und die offene Wahl.

Es gibt bereits Unternehmen, Wohngemeinschaften, NGOs u.a., die nach diesem Modell organisiert sind. Das Einzige, wo es noch keine soziokratischen Erfahrungen gibt, ist in der politischen Führung eines Landes. Bürger*innenräte sind aber zum Beispiel schon erste Ideen.

Du hattest in der ersten Frage gesagt, dass sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt hat, Ökolandbau voranzubringen. Wie ich dich verstanden habe, seid ihr dann quasi Teil der ausführenden Kraft zur Erreichung dieses Ziels. Fühlst du dich dabei durch die Arbeit der Bundesregierung eher unterstützt oder behindert?

Also wir haben hauptsächlich mit dem grün geführten Landwirtschaftsministerium zu tun. In diesem Ministerium wurde auch die Ökolandbaustrategie ausgearbeitet. Bei den Zielen, die ich persönlich habe und die ich für die Welt als wichtig ansehe, fühle ich mich in meinem Handlungsfeld Ernährung und Landwirtschaft total bestärkt. Ich fühle mich bestärkt, weil ich das Gefühl habe, dass ein neuer Wind auch in den Verwaltungsstrukturen weht. Wenn man früher bei einem*einer CDU-Landwirtschaftsminister*in auf die Grüne Woche gegangen ist, war es ein ganz anderes Miteinander Reden, als es das letztes Jahr unter einem grünen Ministerium war. Es ist vielmehr ein Reden auf Augenhöhe. Es ist viel offener geworden. Dieses Jahr stand ich Robert Habeck und Cem Özdemir gegenüber und wir haben es geschafft, in drei oder vier Minuten, die beide an unserem Stand waren, persönlich zu werden. Es gab eine richtige Stammtisch Atmosphäre. Das hat mich wirklich gefreut und ich habe mich und unsere Arbeit vor Ort wertgeschätzt gespürt. Also wir hatten das Gefühl, wir sitzen mit denen am Stammtisch und die haben sich ehrlich interessiert. Ich habe gespürt, dass der Herr Habeck auch eine andere Logik hat, aber in dem System, was er nicht ändern kann.

Dennoch gehe ich mit vielen Dingen der Ampelregierung nicht d’accord – gerade in wirtschaftlicher Hinsicht. Zum Beispiel für das Beharren auf der Schuldenbremse habe ich kein Verständnis. Das neoliberale Wirtschaftsverständnis blockiert uns wirklich.

Gerade im landwirtschaftlichen Bereich hört man ja aktuell eher sehr viel auch sehr harte Kritik an den Grünen oder der Ampel. Stichwort „Bauernproteste“. Was ist dein Blick darauf?

Es ist ein schwieriges Thema. Ich kann die Motivation und die Bedürfnisse der Bauern und Bäuerinnen, zu protestieren, sehr gut nachvollziehen. Ich weiß, wie die Bürokratie ausbordet. Wir als kleine Gemeinschaft Gleichgesinnter sind deshalb seit 10 Jahren auf der alljährlich stattfindenden „Wir haben es satt“ Demo. Ich mag diese Demo, weil da das Framing ganz klar und deutlich ist. Das ist wertebasiert und an die Werte wird sich auch gehalten. Bei den „Bauerprotesten“ ging es leider wirklich oft und sehr radikal in eine ganz bestimmte politische Richtung. Außerdem sehe ich deren Handlungsstrategie sehr kritisch. Dass die Straßenblockaden der Traktoren dann zum Teil von der Staatsmacht anders bewertet wurden, als die der Letzten Generation, hat mich wütend gemacht.

Ich finde es unglaublich schade, dass die Bauern und Bäuerinnen sich von dem Bauernverband so blenden lassen. Wenn man seine Strukturen versteht, ist der eher ein Lobbyverband der Agrarindustrie und nicht ein Verband für den Berufsstand der Bauern und Bäuerinnen. Ich hoffe, dass dies immer mehr Bauern und Bäuerinnen erkennen.

Wir haben mit „Wir haben es satt“ und den „Bauernverband“ jetzt über zwei sehr unterschiedliche Proteste gesprochen. Hast du Gedanken dazu, wie Kritik auch zwischen grünen Akteuren geübt werden kann, ohne dabei rechten Akteuren in die Hände zu spielen, weil es nach außen uneinig aussieht, oder Akteure, wie Ampel und EU durch die Kritik noch mehr diskreditiert werden?

Da sind wir dann wieder bei dieser anderen Logik von Sprache. Diese andere Logik von Sprache braucht es auch im politischen Diskurs. Mein Tipp wäre damit anzufangen, zu sagen, was gut läuft, und gleichzeitig darauf zu verweisen, wie wir noch besser darin werden könnten, unsere gemeinsamen Ziele zu erreichen.

Für mich ist es total wertvoll, dass wir jetzt diese Koalition nach 16 Jahren CDU haben. Dass wir ein grün regiertes Landwirtschaftsministerium haben. Ich nehme persönlich viel positiven Wandel wahr und es ist dabei auch wichtig zu betonen, dass nun mal gerade 16 Jahre andere an der Macht waren und demnach nicht zu viel Wandel auf einmal erwartet werden kann. Die Grünen tun wirklich gute Dinge, sie sollten meiner Meinung nach daran arbeiten, wie sie das gerade in ländlichen Regionen verständlich kommunizieren.

Du bist ja auch noch bei den Landaktivistinnen aktiv. Was bedeutet für dich Landaktivismus und wie sieht dein Engagement bei den Landaktivistinnen in der Praxis aus?

Die Landaktivistinnen ist eine GbR aus zwei Frauen. Aktivismus auf dem Land heißt, dass wir sehr aktiv unsere Positionen, unsere Meinungen und unsere Erfahrungen teilen. Für mich heißt es einfach, aktiv an Logiken zu arbeiten. Uns geht es also nach soziokratischen Grundprinzipien darum, dass es Vorschläge und Meinungsrunden gibt, damit Einwände gehört und ernst genommen werden. Aktivismus heißt für mich nicht, Kristin und ich haben eine Idee und die setzen wir um, sondern wir möchten aktiv gemeinsam das Land verändern. Dabei wollen wir den Menschen zuhören, sie verstehen und sie fragen, was ihre Bedürfnisse und Ideen sind, um Spannungsfelder und Probleme zu lösen.

Wir sind so neben unseren spezifischen Fachthemen auch moderativ tätig, um Menschen zusammen- und näher zu bringen. Ein schönes Beispiel für mich war die Klimakonferenz in Bayreuth, wo ich moderativ ca. 100 Personen zu einer gemeinsamen Resolution zusammenbringen durfte. Solche Aufträge machen mich glücklich.

Dann noch mal, weil die Begriffe in dem Nachhaltigkeitsziel stehen. Was verstehst du unter Wachstum oder nachhaltigem Wachstum? Und wie viel Gewicht misst du diesem Begriff in aktuellen Zeiten noch bei?

Spannend, das hat mich noch nie wer gefragt, Dazu höre ich sonst immer Podcasts und jetzt kann ich mal eine Meinung dazu abgeben. Die Frage ist ja, was für ein Wachstum. die Blume wächst, das Getreidekorn wächst und Kinder wachsen. Solche Wachstumsideen finde ich total super. Man weiß auch, dass nach dem Wachstum wieder ein Vergehen folgt. Das ist ein natürlicher Kreislauf, der nicht negiert werden kann. Das kann man auch auf andere Arten von Wachstum übertragen. Man sieht also zunächst, dass etwas wächst und irgendwann kommt ein Punkt, an dem wird es vielleicht zu viel. Dann muss etwas verloren gehen, weil es nicht mehr gebraucht wird. Mit den planetaren Grenzen haben wir da einen Parameter, der uns sehr klar zeigt, dieser Punkt deutlich erreicht ist. Die Ressourcen der Erde waren letztes Jahr in Deutschland Anfang Mai und auf der Welt Anfang August aufgebraucht. Für mich sollte Wirtschaften immer im Rahmen der planetaren Grenzen passieren und da sind wir im westlichen Kontext voll drüber hinausgeschossen. Wenn man es global kosmisch betrachtet, müsste an der einen Stelle abgebaut werden, damit an anderen Stellen was aufgebaut werden kann. Insgesamt, glaube ich, wäre für uns als Menschheit eine langsamere, bewusstere und reflektiertere Entwicklung besser gewesen.

Noch ein Begriff – Was bedeutet für dich Wohlstand?

Für mich ist Wohlstand, dass ich mir keine Sorgen machen brauche um meine Existenz. Punkt. Zum Wohlstand gehört auch, dass ich mobil sein darf, aber für mich gehört es nicht zu Wohlstand, dreimal im Jahr in den Urlaub zu fliegen. Ich weiß, dass ich privilegiert lebe, mit der Natur und was ich mir leisten kann. Ich glaube, ich bin ein sehr wohlständiger Mensch.

Und letzte Begriffsfrage: Wie lassen sich die Begriffe aus dem Nachhaltigkeitsziel menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum zusammenbringen?

Super gut. Ich finde das ist total klar und eigentlich total einfach. Mit der Soziokratie funktioniert das super. Ich glaube daran. Mein Experimentierfeld ist die Ökomarktgemeinschaft. Wir arbeiten seit fünf Jahren soziokratisch in diesem Unternehmen zusammen und es funktioniert super, obwohl wir in diesen fünf Jahren vor großen Herausforderungen standen: Pandemie, Inflation, Energiekrise. Natürlich ist mir bewußt, dass wir im derzeitigen neoliberalen Wirtschaftssystem als Unternehmen wirtschaften, aber ich weiß, dass wir im Unternehmen menschenwürdig und gemeinwohlorientiert handeln. Die Menschen aus dem Team sind sehr gerne dabei und dass das Team wächst immer weiter, sowohl in der Zahl der Mitarbeitenden, als auch jede Person individuell. Ich bin da immer wieder überrascht. Wir haben eine ältere Mitarbeiterin, die aus dem öffentlichen Verwaltungsdienst kommt. Sie kommt also aus einem ganz klassisch hierarchisch strukturierten Berufsfeld. Als sie zu uns kam, waren wir schon soziokratisch aufgestellt und ich fand es total spannend zu beobachten, wie sie daran lernt. Menschenwürdige Arbeit hat für mich auch ganz viel damit zu tun, dass man selber an der Arbeit wächst und sich entwickelt. Wenn wir das in der Arbeit schaffen, dann sind Menschen sehr glücklich und zufrieden und dann wächst die Wirtschaft auch anders, als sie jetzt wächst. Menschen merken, dann, dass es so viele schöne Dinge auf der Welt gibt und sie nicht unbedingt acht Stunden arbeiten gehen müssen, um genug Geld zum glücklich sein zu verdienen. Sie könnten merken, dass Glück auch anders erfahrbar ist und dann denke ich erlebt Wirtschaftswachstum eine andere Definition.