#05: Geschlechtergleichheit – Tahora Husaini

Liebe Tahora, was ist dein Bezug zum SDG?

2014 bin ich über ein Stipendium aus Afghanistan nach Deutschland, nach Erfurt, gekommen, habe studiert und anschließend als Dolmetscherin sowie als Beraterin für Geflüchtete gearbeitet. Über einen Verein, den wir gegründet haben – Frauen für den Nahen Osten – konnten wir Projekte an Mädchenschulen in Afghanistan umsetzen. In dem Pilotprojekt ging es darum, für die Mädchen nach der Schule eine Perspektive zu finden. Ich selbst bin auch in Afghanistan zur Schule gegangen und habe es auch erlebt, dass viele nach der Schule gezwungen werden zu heiraten. Viele jungen Frauen haben keine anderen Optionen oder überhaupt Informationen, was ihre Möglichkeiten im Leben sind. Das wollten wir ändern und Informationen bereitstellen. Aber das war vor der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021.

Wie bist du dazu gekommen, dich politisch für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen?

Lange war mein Traum, für Frauen in Afghanistan eine Fabrik zu eröffnen, in der sie arbeiten können. Im Krieg hatten viele ihre Männer verloren, weshalb viele Frauen arbeiten gingen und sowohl für die Finanzierung der Familie als auch den Haushalt zuständig waren. Ihnen wollte ich eine Perspektive geben. Aber die gleichen Restriktionen, die Frauen im Land erfahren, sind mir im Prozess auch begegnet. Deshalb habe ich mich gefragt, welche Ressourcen und welches Studium ich bräuchte, um wirklich etwas verändern zu können. Es braucht nicht nur Politik, sondern auch policies.

Wie hast du dann weitergemacht?

Wenn man jung ist, denkt man, man könne die ganze Welt verändern. Nach dem Studium habe ich gemerkt, dass ich weniger die Welt, aber viel mehr mich selbst geändert hatte. Ich habe anders auf Afghanistan und Deutschland geschaut, mein Bild von Europa hat sich geändert und ich habe viel zu Rassismus und Diskriminierung von Geflüchteten gearbeitet. Probleme sind verknüpft. So habe ich eine Fotoausstellung zu Diskriminierung von Migrant*innen in Thüringen organisiert. Und das deutsche – rassistische – Bild von Afghanistan hat mich auch erschüttert. Sie fragten mich, ob ich in Afghanistan überhaupt zur Schule gehen durfte.

Aber Frauen in Afghanistan haben es ja wirklich schwer.

Ja, aber auch sie sind nicht passiv. Zwischen der Gleichberechtigung in Afghanistan und Deutschland liegen Welten. Aber die Frauen dort haben auch viele und große Träume. Das tauchte oft nicht auf. Natürlich gibt es viele Probleme im Land, aber Länder wie Deutschland sind nicht komplett unschuldig daran, oder daran, wie sie ein Land darstellen.

Wie siehst du den Gleichberechtigungsprozess?

Seit ich in Deutschland bin, bin ich jedes Jahr nach Afghanistan zurückgekehrt. Es sind mehr Frauen auf der Straße. Aus meiner Kindheit in Afghanistan war ich das nicht gewohnt, dort waren nur Männer. Viele Frauen haben sich ihr eigenes Business aufgemacht zum Beispiel. Sie haben eigene Restaurants. Sie sind sichtbar. In 20 Jahren – das ist nicht viel Zeit – ohne die Taliban haben sie sich einiges erkämpft.

Jetzt sind die Taliban wieder da.

Ich bin eine Woche vor der Machtübernahme nach Deutschland zurückgekehrt. Es war ein Schock, ein Alptraum. Eine Million Schritte zurück. Wir ahnten eine Woche zuvor schon, dass das kommt, aber wir hatten die Hoffnung, dass es nicht passiert. Ich hatte vor Ort auf der Straße junge Frauen und Kinder interviewt und sie nach ihren Träumen gefragt. Eine wollte Pilotin werden. Frauen, Mädchen – teilweise sehr arm – mit eben ganz normalen Träumen. Auch ich war mit 13 in Afghanistan und hatte so viele Träume. Träumen kannst du immer. Die Herrschaft der Taliban ist heute anders als die vor 30 Jahren. Die Frauen heute haben Freiheit erlebt. Natürlich gab es Probleme, aber sie wissen, wie die Freiheit aussieht. Sie konnten etwas machen, etwas bewegen. Die Freiheit wurde ihnen nun genommen.

Schrecklich. Was macht das mit den Frauen?

Die physische Unterdrückung, dass die Frauen nicht mehr auf die Straße gehen können, ihnen das Leben verboten wurde, ist furchtbar. Wir schauen aber viel zu wenig auf die psychischen Aspekte davon, was es mit ihnen macht, zuhause zu sein, allein zu sein.

Hast du zu den Frauen, mit denen du für deine Fotos und Interviews gesprochen hast, noch Kontakt?

Leider nicht zu allen. Einige von ihnen habe ich nur auf der Straße getroffen. Aber zu anderen schon. Zum Beispiel zu einer Frau, die ein Café geführt hat, in dem sich häufig viele junge Mädchen und Frauen getroffen haben. Sie haben dort über politische Themen gesprochen, es war ein schöner Raum für Austausch, den sie geschaffen hat. Sie konnte nicht in Afghanistan bleiben und ist heute in Frankreich, in Paris. Ich weiß, dass ihre Gedanken – so wie meine auch – noch in Afghanistan sind. Es ist schwierig, in eine neue Gesellschaft zu kommen, sich zu integrieren, weil du mit dem Kopf noch zuhause bist. Ich verstehe das, ich wollte auch wieder zurück nach Afghanistan gehen, das war mein Traum.

Und dann wird all das weggenommen…

Ich will irgendwas machen, irgendetwas zurückgeben. Denn ich hatte die Möglichkeit, herauszukommen, etwas zu erreichen. Das hatten viele Menschen vor Ort nicht. Ich möchte irgendwie, über Projekte oder ähnliches, diese Frauen und ihre Träume und Ziele unterstützen.

Das ist ein schöner Gedanke. Was ich mich gerade noch frage: Wenn wir auch zum Beispiel nach Iran schauen: Dass Frauen unterdrückt werden oder weniger gleichberechtigt sind, ist ja ein globales Problem mit unterschiedlichen Ausprägungen. Findest du, man kann diesen Vergleich ziehen oder nicht?

Im Gegensatz zu Afghanistan ist es in Iran ja leider schon länger so, ohne diese Episode von mehr Freiheit. Seit Jahrzehnten leiden die Frauen dort. Natürlich kann man die Länder nicht direkt vergleichen, aber es ist die gleiche Ideologie, unter der sie leiden. Aber ja, es sind immer unterschiedliche Ausprägungen. In Iran gibt es einen Mindestlohn. Das Recht auf Bildung wird dort nicht weggenommen. Und dennoch leiden Frauen fürchterlich. In der derzeitigen Bewegung, in dieser Revolution sehen wir, dass die jungen Menschen zusammenkommen, weil sie verstanden haben, dass sie nicht allein sind. Sondern dass das Regime das Problem ist. Das ist wichtig und gut. In Afghanistan fehlt diese Möglichkeit durch die Bildung, die den Menschen genommen wird. Deshalb sind Millionen Menschen dort noch immer sehr konservativ.

Aber auch dort sind die Frauen auf die Straße gegangen.

Ja. Es ist zu großen Teilen eine Frauenbewegung, auch in Afghanistan wurde sie so genannt. Einen Tag, nachdem die Taliban die Macht übernommen haben, sind die Frauen auf die Straße gegangen. Sie hatten keine Angst. Aber kein Mann hat sie unterstützt. Diese Unterstützung dauert in Afghanistan, glaube ich, sehr lange.

Sollten wir dann mehr über globale Gleichberechtigung sprechen und den Fokus darauf legen, was die Frauen erreichen?

Die Politik und die internationale Gemeinschaft schauen immer zuerst darauf, was aktuell ist und ihre eigenen Interessen bedroht. Es gibt viele Probleme auf der Welt. Immer erst auf sie zu schauen, wenn sie eskalieren, ist zu spät. Viele kurdische Regionen, nicht nur in Iran, haben massive Probleme. Iran hat auch vor der Bewegung jetzt gelitten, seit den internationalen finanziellen Sanktionen. Deshalb muss unsere Demokratie hier eine aktive sein, die die Probleme auf der Erde – ob in Iran und Afghanistan – zusammen behandeln kann. Ich finde es natürlich gut, dass sie endlich Aufmerksamkeit bekommen und dass der Druck aufrecht gehalten wird.

Was müsste jetzt passieren für Frauen auf der Welt?

Viele Menschen in der Zivilgesellschaft sind schon sehr aktiv. Wir müssen aber auch mehr mit den Politiker:innen diskutieren, zusammensitzen, Forderungen und Empfehlungen aufschreiben: Lobbying. Wichtig für die Zivilgesellschaft ist, dass sie zusammensteht. Dass sie darüber informiert ist, was auf der Welt passiert und sie Druck auf die Politik ausübt. Man kann Unterschriften sammeln, auf Demonstrationen gehen. Die Organisation zwischen den Menschen ist wichtig und sie zusammenzubringen. So haben sie Hoffnung. Wir können laut sein und mehr bewegen, wenn wir zusammen sind und nicht allein.

Und natürlich sich in Vereinen zu engagieren. Was macht dein Verein? Ihr helft afghanischen Frauen, richtig?

Ja. Wir haben Projekte, nicht nur für Frauen in Afghanistan, sondern auch in der Türkei. Wir arbeiten alle ehrenamtlich für die Verbesserung der Situation der Frauen in Afghanistan. Wir haben auch Partnerorganisationen, die auch sehr aktiv sind. Natürlich ist die Arbeit in Ländern, die gerade akut von Krisen betroffen sind, sehr schwer. Das liegt zum Beispiel dann auch daran, dass in Ländern mit akuten Krisen ja auch solche Dinge wegbrechen wie die Infrastruktur. Wir haben zum Beispiel Spenden gesammelt und Frauen Hilfspakete gesendet. Das war beinahe akute humanitäre Hilfe. Viel mehr ist in der derzeitigen Situation schwierig. Natürlich möchten wir auch gern wieder on the ground Projekte machen, aber es ist sehr gefährlich. Die humanitäre Hilfe, die kleinen Spenden, die wir sammeln, sind nicht nachhaltig. Aber sie unterstützen eben ganz konkret derzeit dort, wo es am nötigsten ist.