#10: Weniger Ungleichheiten – Ava Shelley
Warum ist dir Gerechtigkeit ein wichtiges Anliegen?
Mir ist es wichtig, dass die Menschen aufeinander achten, ich bin dafür, dass wir alle respektvoll miteinander umgehen und alle akzeptieren. Ich bin sehr offen aufgewachsen, war ein lebendiges Kind, neugierig und habe immer alles mitgemacht. Ich wollte immer unter Menschen sein, mit Menschen arbeiten. Aber ich habe Rassismuserfahrungen gemacht, Sexismus und generell Diskriminierungen erlebt. Deshalb habe ich das Bedürfnis, den Leuten zu zeigen, dass sie nicht so miteinander umgehen müssen. Ich möchte helfen, dass wir alle den ersten diskriminierenden Blick ablegen und unser Gegenüber erst kennenlernen, bevor man sich ein Urteil erlaubt. Es müssen mehr Menschen darüber aufgeklärt werden, dass es besser ist, aufeinander zuzugehen, anstatt diskriminierende Kommentare zu machen. So schafft man ein besseres Miteinander.
Gab es einen Auslöser dafür, weshalb dich das so sehr beschäftigt?
Bei meiner Firmung vor einigen Jahren waren wir für eine Woche im Kloster. Die Geschichte habe ich schon vielen meiner Freund:innen erzählt, weil sie sehr einschneidend für mich war. Wir wussten nicht wirklich, was uns erwartet, außer dass es natürlich in einem katholischen Rahmen stattfinden würde. Wir waren eine zusammengewürfelte Gruppe, einige kannten sich, andere nicht. Es ging um eine Übernachtung und es gab einen Jungen, der mir gegenüber sehr rassistischen Aussagen gemacht hat. Er meinte, es gäbe nicht genug Platz für alle Leute und ich könne ja auf dem Boden schlafen, weil ich Schwarz sei.
Wie furchtbar!
Ja, ich war natürlich erstmal sehr verletzt und habe auch geweint. Er hat mich auch das N-Wort genannt. Es war alles nicht korrekt von ihm. Wenn ich jetzt nochmal zurückdenke, dann hätte ich natürlich auch das Gespräch mit ihm suchen können. Dann wüsste ich, weshalb er so denkt. In dem Moment konnte ich das nicht, weil ich natürlich emotional geworden bin. In einem solchen Moment denkt man, man selbst sei das Problem, hat Zweifel, denkt, man hat etwas falsch gemacht. Anstatt rational zu sehen, dass man natürlich nicht selbst das Problem ist, sondern die andere Person ein Problem mit mir – oder sich – hat.
Es ist ja aber auch nicht deine Aufgabe, unbezahlte Bildungsarbeit zu leisten…
Das mag sein, aber dort habe ich gemerkt, dass wir einfach generell mehr mit Leuten über solche Dinge sprechen müssen. Darüber, welche Arten von Diskriminierungen es gibt und viele Menschen einfach das Wissen darüber nicht haben. Und dass sie vielleicht nie gelernt haben, erst nachzudenken bevor sie handeln.
Weshalb, glaubst du, können das manche Menschen nicht?
Ich bin in Paris geboren und früh wieder nach Stralsund gezogen, meine Mutter hatte dann irgendwann eine andere Partnerschaft, mit der sie auch einen Sohn hat, also meinen Halbbruder. Damit will ich sagen: Die Bilderbuchfamilie gibt es nicht. Man weiß nicht, aus welchen Familienverhältnissen Menschen kommen. Nirgends läuft es zu einhundert Prozent rund. Jede:r hat Hürden, die er oder sie überwinden muss.
Du meinst also, dass das familiäre Umfeld hier eine große Rolle spielt?
Ja, ich kenne das auch selbst. Dann sitzt da jemand beim Abendessen am Tisch, der oder die stark auf Schlagworte reagiert. Also so etwas wie „Flüchtlingsstrom“, dass diese Menschen in unser Land kämen und uns etwas wegnehmen würden. Solche Situationen sind für mich persönlich oft gar nicht so einfach, weil ich ein sehr emotionaler Mensch bin und es mir in der Vergangenheit deshalb manchmal nicht leichtfiel, über diese Themen zu reden. Aber ich wollte es immer lernen, um Menschen eventuell auch von dem Gegenteil überzeugen zu können: Eben nicht sofort zu pauschalisieren und offen nachzudenken.
Weshalb generalisieren Menschen so gern?
Das habe ich mich tatsächlich auch sehr, sehr oft gefragt. Ich glaube, das ist sehr komplex. Vielleicht spielt eine Art Schutzmechanismus eine Rolle? Den ich vielleicht nicht teile oder nicht der Meinung bin, aber das könnte ich mir vorstellen. Derjenige, an den ich gerade denken muss, ist viel gependelt für seine Arbeit. Dort hat er vielleicht vieles gesehen, was für ihn „anders“ ist? Menschen, die eine andere Sprache sprechen oder so und das hat ihm dann Angst gemacht. Vielleicht hat er mit einzelnen Personen negative Erfahrungen gemacht – so wie ich negative Erfahrungen mit Leuten in diesem Land gemacht habe…
Also gab es noch andere Situationen als bei der Firmung?
Ja, ich habe in Deutschland Rassismuserfahrungen gemacht, obwohl ich mein Leben lang in Deutschland lebe und deutsch spreche. Allein durch meine lockigen Haare sehe ich anders aus als viele andere hier. Viele ältere Damen und Herren haben mich schon früh gefragt, ob sie meine Haare anfassen können. So etwas kommt immer und immer wieder. Die Leute merken in dem Moment häufig nicht, dass es Aussagen sind, die die Herkunft von jemandem aufgreifen. Wieso sind meine Haare besonders? Natürlich ist es wichtig, Kulturen nicht zu verstecken und unterschiedliche Kulturen und Arten zu leben, zu würdigen. Aber deshalb muss man sie noch lange nicht exotisieren.
Hast du solche Dinge nur in persönlichen Kontexten oder auch in institutionellen erlebt?
Sowohl in persönlichen Kontakten, als auch in anderen Kontexten. In der Schule hat mir auch jemand aus dem Fenster das N-Wort hinterhergerufen. Diese negativen Schubladen und Kategorien, die durch Sexismus, Rassismus und so weiter entstehen, sind schlimm. Deshalb finde ich es so wichtig, im Gespräch zu bleiben – auch wenn ich viele Momente gesehen habe, in denen Reden auch nicht mehr viel bringt. Aber manchmal eben schon – zum Beispiel gab es in meiner Klasse einige, die mir gegenüber rassistische Aussagen gemacht haben. Dann gab es ein Gruppengespräch und eine Ermahnung der Schule und dann kamen diese Aussagen nicht mehr. Vielleicht haben sie hinter meinem Rücken weitergemacht, aber zumindest hat die Schule sich positioniert.
Welche Erfahrungen hast du in der Schule noch gemacht?
Eine Freundin und ich haben zum Beispiel keine direkte Gymnansialempfehlung bekommen, vielleicht aufgrund unseres Aussehens oder unserer Herkunft. Am Ende war es auch nicht transparent, wie sie entschieden haben. Wir haben dann sehr hart gearbeitet, wir haben uns regelrecht abgearbeitet, damit wir in die obere Ebene kommen, damit ich noch auf die Gymnasialstufe komme. Im Endeffekt habe ich das dann auch geschafft – aber nur, weil einige Lehrer:innen mich da wirklich unterstützt haben, was ich sehr nett fand. Aber generell müsste man schon hinterfragen, wie es dazu kommt, dass es bei einer solchen wichtigen Entscheidung eher jene getroffen hat, die als „anders“ galten.
Was müsste dort anders laufen?
Vielleicht bräuchte es eine Art von unabhängiger Behörde, die gerade dort, wo wichtige Bewertungen getroffen werden, sei es im Kindergarten, in der Vorschule und Schule, nochmal hinschauen. Dass dort vielleicht Leute rangeholt werden, die wirklich schauen, ob es dort gerecht vor sich geht. Dass auf solche Themen wie Rassismus, Sexismus, Antisemitismus geachtet wird, weil diese ja immer in unseren Strukturen präsent sind.
Welche konkreten Maßnahmen kannst du dir hier also – bis auf unabhängige Überprüfungsgremien an Schulen – noch vorstellen?
Quotierungen wie die Frauenquote können noch ein Mittel sein für mehr Gleichberechtigung. Aber da gibt es natürlich auch ein Für und Wider. Vielleicht ist es besser, die SDGs in unser Grundgesetz aufzunehmen, oder sie an andere Gesetze zu koppeln. Denn sowohl unsere Gesetze als auch die Nachhaltigkeitsziele dienen ja dazu, unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben zu verbessern. Gleichzeitig könnte man Schulungen anbieten für Eltern, Erziehungsberechtigte. Denn Rassismus- oder andere diskriminierende Erfahrungen werden ja bereits im jungen Alter gemacht. Deshalb sollten bereits Kinder einen Raum haben, in dem sie über solche Dinge sprechen können. Natürlich müssen auch hier die Ansprechpartner:innen geschult sein.
Was bräuchte es noch für eine gerechtere Gesellschaft?
Es gibt so viel Potential in unserer Gesellschaft, was wir nicht ausschöpfen, weil wir Menschen ausschließen. Es scheint Strukturen zu brauchen, um Leute wirklich zu motivieren und zu integrieren in politische Prozesse – auf unterschiedlichen Ebenen. Vereinsstrukturen können helfen, aber natürlich auch Institutionen, um alle Leute in einen Dialog zu holen.
Für eine wirkliche Diversität?
Ja, genau. Man braucht eben einfach verschiedene Leute aus verschiedenen Bereichen, aus verschiedenen Lebenssituationen. Man sollte so viele Leute wie möglich miteinschließen und nicht irgendwie außen vor lassen, nur weil man im ersten Moment denkt, dass die Person da gar nicht reinpasst. Einfach, um so viele Eindrücke, Erfahrungen und Meinungen wie möglich aufeinandertreffen zu lassen. Und aus diesen Meinungen bildet sich ja im Gesamtbild vielleicht ein Resultat, was uns einfach allen hilft. So können wir gemeinsam einen Lernprozess haben und sich gegenseitig empowern und pushen.
Wie würde so eine Welt, in der es das alles gibt und in der das SDG erfüllt wäre, dann aussehen?
Die Welt wäre freier, offener. Es gäbe keine Unterschiede, die als „besser“ oder „schlechter“ gelten würden, sondern man würde das große Ganze sehen. Man wäre auf der gleichen Ebene und würde sich auch als gleichberechtigt sehen. Aber ohne eine politische, rechtliche und institutionelle Unterstützung geht es nicht.
Solange wir noch nicht an dem Punkt sind: Was – außer Dialog – wünschst du dir noch von allen Menschen?
Wenn mir rassistische Situationen widerfahren sind, war ich immer sehr froh darüber, wenn Freund:innen mir geholfen haben. Wenn sie in dem Moment für mich stark waren, einfach weil ich es selbst in dem Moment nicht konnte, keine Stimme hatte und mit dem Gehörten irgendwie erstmal fertigwerden musste. Außenstehende sollen sich einmischen und die diskriminierten Menschen darüber empowern. Mir hat es zum Beispiel auch geholfen, mit meiner Mutter zu sprechen und Dinge nicht in mich hineinzufressen. Wenn man das macht, fühlt man sich nur noch einsamer. Meine Mutter hat immer gesagt – und das möchte ich gern weitergeben – dass ich nicht das Problem bin, sondern die Leute selbst Probleme mit sich haben und deshalb ihre negativen Emotionen an anderen Leuten auslassen. Denn du bist geboren, wie du bist, lebst in der Welt, wie sie ist, machst dort das Beste daraus und bist nicht das Problem.