#16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen – Rawan Alhusain

Liebe Rawan, magst du dich kurz vorstellen?

Ich bin Rawan, seit acht Jahren mit meiner Mutter und mit meinen Geschwistern in Deutschland und ich habe hier eine Ausbildung als medizinische Fachangestellte angefangen. Bei Tutmonde bin ich auch seit einigen Jahren aktiv und habe dort auch an den Kinderbüchern mitgeschrieben. Eine Geschichte dort spiegelt meine eigene Erfahrung wider. Damals lebte ich in Syrien. Es war ein normaler Schultag, ich war in der vierten Klasse, wir hatten gerade Englischunterricht. Auf einmal fing ein Alarm an und niemand hatte Ahnung, worum es ging. Nach ein paar Minuten kam die Schulleiterin zu uns gerannt und sagte, wir sollten uns unter den Bänken verstecken. Wir sollten uns nicht bewegen.

So hast du den Anfang des Krieges erlebt? Was passierte dann?

Auf dem Schulhof stand eine Gruppe von Männern – man kann sie nicht wirklich Soldaten nennen, aber es waren Kämpfer. Sie haben sich dort vor den Soldaten versteckt. Wir wussten nicht, was passiert, wir wussten nur, dass es zwei Gruppen gab und sie gegeneinander waren. Viel später kam unsere Schulleiterin und meinte, wir sollten nach Hause gehen. Wir warteten, während die Schule versuchte, unsere Eltern zu erreichen. Alle waren in Panik, alle Kinder haben geschrien und geweint, ich auch. Auch die Lehrer:innen hatten Angst. Wir konnten meine Eltern nicht erreichen und die von vielen anderen Kindern auch nicht. Andere konnten ihre Kinder nicht abholen, weil es zu gefährlich war, auf die Straße zu gehen. Wir haben also in der Schule gewartet. Seitdem war in Syrien kein Frieden mehr. Heute gibt es kein wirkliches Syrien mehr. Die meisten Menschen sind weg. Viele sind in der Türkei, andere in der EU. Nur die älteren Leute sind dort geblieben, mein Opa und mein Onkel, damit sie auf andere Leute aufpassen können.

Wie geht es ihnen?

Naja. Gut? Es wird immer noch jeden Tag alles teurer. Miete, Essen, alles. Und sie können niemals wissen, was der nächste Tag bringt. Heute gibt es vielleicht keine Kämpfe oder Krieg. Aber vielleicht fangen sie morgen wieder an. Es ist furchtbar, in dieser Unsicherheit zu leben.

Wie Schrecklich.

Es gab viele Situationen der Unsicherheit. Mein Onkel musste für das Assad-Regime arbeiten, alle Männer ab einem bestimmten Alter müssen das. Sie können das nicht selbst entscheiden. Auch mein Onkel wurde gezwungen. An einem Tag knallte die Tür mit Gewalt gegen die Wand und Assad-Soldaten standen bei uns in der Wohnung, fragten nach ihm. Als wir sagten, er sei nicht da, logen sie uns an, sagten, mein Onkel sei mit den „Friedenstruppen“ mitgegangen. Dabei wissen und wussten alle, dass die unterschiedlichen Gruppen sich jeweils immer gegenseitig die Leute entführt haben. Sie drohten damit, uns alle zu entführen.

Und von solchen Momenten musstest du mehrere erleben?

Einer der schlimmsten Momente war, als meine Mutter und ich einmal nach Damaskus gefahren sind, um einkaufen zu gehen. Allerdings gab es zwischen unserem Ort und Damaskus eine Art Kontrolle, einen Posten. Der Bus blieb stehen, Soldaten haben dann geschaut, was wir dabeihaben. Sie haben in unsere Taschen geschaut, unsere Ausweise kontrolliert. Dann forderten sie meine Mutter auf, mitzukommen. Das ist immer ein schlechtes Zeichen, es ist schlimm, wenn jemand mitkommen muss. Meine Mutter fragte: „Was wollt ihr von mir?“ Sie sagten, sie solle nicht so frech sein und einfach mitkommen. Sie wurde zu einem kleinen Raum gebracht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Busfahrer sagte zu mir, er könne nicht länger warten. Wenn ich auf meine Mutter warten wolle, sollte ich aussteigen. Ich war noch sehr jung und wusste nicht so recht, was ich machen sollte, musste dann aber erwachsen mit der Situation umgehen. Ich stieg aus und war allein. Ich habe telefoniert, herumgefragt. Alle sagten, es dauert länger, ich solle warten. Es hat sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Ich habe versucht, mich zu beruhigen. Hinterher wurde gesagt, wäre sie allein gewesen und hätte niemanden hinter sich gehabt, hätten sie sie mitgenommen. Jede:r weiß, was passiert, wenn sie eine Frau mitnehmen. Erst vergewaltigen sie, dann schlagen sie sie bis sie stirbt.

Aber meine Mutter wurde gehen gelassen. Als sie endlich herauskam, hatte sie Abdrücke von einem Schlag im Gesicht. Aber sie wiederzusehen, war ein unbeschreibliches Gefühl. Wenn man davor denkt, man sieht jemanden vielleicht nie wieder.

Das tut mir unglaublich Leid, Rawan.

Das war für mich wirklich die schlimmste Situation. Schlimmer als die Flucht über die Türkei, über Griechenland. Denn da wusste ich: Wenn ich sterben würde, dann wäre ich wenigstens nicht allein. Nichts war so schlimm wie die Situation, allein zu sein, nicht zu wissen, was passiert und was man machen soll. Der Busfahrer, der mir auch nicht helfen konnte oder wollte, kein Mitgefühl hatte. Er hat ein Kind dort an der Straße, an der Kontrolle stehen lassen. Während ich nichts wusste und dann alles versucht habe, um meine Mutter zu retten. Ich bin so froh, dass meine Mutter noch lebt. Sie musste schlimme Sachen erleben. Ihr Bruder verschwand. Es wird noch immer gesagt, er wurde entführt und getötet. Alle haben irgendwie was gehört, aber niemand weiß es so wirklich. Das ist auch das Schlimme an dieser Ungewissheit des Krieges.

Was hat diese Zeit mit dir gemacht?

Solche Dinge sind viel passiert, nicht nur mir. Viele Kinder haben diese oder ähnliche Situationen erlebt. Die schwierigen Wege zwischen Schule und Zuhause, die Soldaten auf der Straße. Wir haben uns in unseren Kellern versteckt, damit wir nicht von Bomben getroffen werden. Mein Bruder war damals sehr jung, drei, vier, fünf. Ich bin ungefähr sieben Jahre älter als er. Ich werde niemals vergessen, wie er die ganze Nacht lang weinte, wenn die Bomben eingeschlagen sind. Und immer, wenn sich danach Leute gestritten haben und es laut war, dann weinte er auch, weil es ihn daran erinnert hat. Er konnte nicht verstehen, was passierte und seine Gefühle auch nicht verstehen. Den Einfluss vom Krieg haben wir bei ihm lange noch gemerkt.

Inwiefern?

Hier kam er direkt in die erste Klasse. Er war es nicht gewohnt, unter so vielen anderen Kindern zu sein, in dieser bestimmten Atmosphäre. Es gab hier eine Lehrerin, die ihn sehr unterstützt hat. Sie hat auch mir geholfen damit, wie ich mit ihm umgehen und was ich mit ihm machen soll, wie ich ihn verstehen kann. Sie war bis zur vierten oder fünften Klasse, bis er die Schule gewechselt hat, seine Lehrerin. Solches Lehrpersonal zu haben, ist unglaublich viel wert. Eine Person zu haben, die ihn unterstützt, hat ihm sehr geholfen. Sie hat ihn und seinen Schmerz gut aufgefangen, mit seinen Impulsen geholfen. Es ist gut, wenn es solche Leute gibt. Heute kümmert er sich toll um mich, zum Beispiel wenn ich krank bin.

Wie schön, wenn sich die Familie so unterstützen kann.

Ja. Damals war meine Mutter auch noch sehr jung. Hier in Deutschland arbeitet sie auch fast den ganzen Tag, ich ging auch noch zur Schule. Da waren auch solche Personen wie die Lehrerin eben unglaublich wichtig, die uns alle unterstützt hat mit ihrer Art – auch bei Rassismuserfahrungen. Zum Beispiel, als ich das erste Mal mit Kopftuch in die Schule kam. Das war eine unangenehme Situation, weil die Schüler:innen gelacht und auch lange nicht mehr aufgehört haben. Ich habe mich dann irgendwo hingesetzt, habe den ganzen Tag aufgepasst. Aber als ich nach Hause gegangen bin, habe ich auf dem ganzen Weg geweint.

Wie ist es hier für dich in Mecklenburg-Vorpommern sonst?

Damals hatte ich immer meine Mutter an meiner Seite. Ich schätze es, Leute, Freund:innen, an meiner Seite zu haben. Darüber kann ich neue Leute kennenlernen und neue Sachen lernen, genauso wie über die Vereinsarbeit, zum Beispiel hier bei Tutmonde. Hier habe ich mich immer wohlgefühlt, das Zusammenkommen und die Arbeit haben Spaß gemacht. Ich kann an Veranstaltungen teilnehmen, zum Beispiel im Schweriner Schloss, habe Politiker:innen getroffen. In den Kinderbüchern konnte ich meine Erfahrungen aus dem Krieg über eine Geschichte teilen. Dort gibt es ein Happy End, das macht Mut.

Was wäre in deinem Leben jetzt anders, wenn das Happy End aus den Kinderbüchern nicht nur in der Geschichte wäre, die du geschrieben hast, sondern real?

Der Krieg hat mich kaputt gemacht. Natürlich geht das Leben weiter, aber es gibt viele, die Depressionen bekommen. Viele, die nicht weiterleben wollen, sich nicht weiterentwickeln können, weil es so schlimm war. Natürlich würde es mir besser gehen, wenn es den Krieg nicht mehr geben würde. Aber er ist eben da.

Das ist schlimm. Was würdest du dir wünschen, damit andere Leute diese Erfahrungen nicht machen müssen?

Ich würde mir für sie wünschen, dass sie einen Platz finden, eine Person, die für sie da ist. Und ganz grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass niemand mehr fliehen muss, dass es keinen Krieg gibt. Dafür müssen die Menschen mehr miteinander sprechen.