Es hängt vieles an den Eltern

Erfahrungen von Lehrer*innen mit Homeschooling. Ein Interview von Uta Rüchel, erschienen bei wirmachendas.jetzt (WMD)

Lena Goette arbeitet an einer Gesamtschule in Stralsund und engagiert sich ehrenamtlich als Deutschlehrerin für Geflüchtete. Eduard Laukart kam mit fünf Jahren als sogenannter Russlanddeutscher in die Bundesrepublik und unterrichtet seit 2016 an der Stralsunder Musikschule. Mit WIMD sprachen die beiden über Bildungsgerechtigkeit und Inklusion . Dass es kaum Lehrer*innen mit Migrationshintergrund in der Region gibt, zeigt, wie groß die Hürden offenbar noch immer sind.

Was sind Ihre wesentlichen Eindrücke nach Monaten des Homeschooling?

Eduard Laukart: Außer den 30 Minuten pro Woche, in denen wir uns sehen, haben wir in der Musikschule ja eigentlich immer Homeschooling. Aber so ganz ohne persönlichen Kontakt war es natürlich schwierig. Ich glaube, es ist leichter, Mathematik am Bildschirm zu unterrichten als Musik. Solange es um das „Handwerkszeug“ geht, funktioniert das noch, aber wenn es um die musikalische Ausgestaltung geht, nicht mehr. Da fehlt die körperliche Präsenz, die Energie.

Frau Goette, gab es bei Ihnen Schüler*innen, die besonders gut mit Homeschooling klarkamen?

Lena Goette: Es gab einige wenige „perfekte Homeschooling-Kinder“, die alles allein hinbekommen haben, aber das waren wirklich nur wenige. Was vielen gefehlt hat, war die Möglichkeit, direkt nachzufragen, auch die Mimik und Gestik beim Erklären der Aufgaben. Wer Verständnisschwierigkeiten hat, braucht oft nochmal eine andere Erklärung oder dass man an der Tafel etwas vorführt. Das fiel völlig weg. Natürlich sehe ich auch, dass es einigen gut getan hat, nach ihrem eigenen Rhythmus zu lernen, aber andere waren davon überfordert. Es wird in Zukunft schwierig bleiben, das alles unter einen Hut zu bekommen.

Welche Rolle spielen die Eltern, wenn Lehrer*innen keinen direkten Kontakt zu ihren Schüler*innen haben können?

Lena Goette: Es hängt viel, sehr viel an den Eltern. Die Frage ist immer: Haben sie Zeit und Kraft gehabt, sich um die Kinder zu kümmern, die Technik bereitzustellen, alles auszudrucken, aber auch um sie zu motivieren und zu unterstützen, damit sie sich überhaupt hinsetzen und ihre Aufgaben erledigen? Zumindest bis zur 7. Klasse ging aus datenschutzrechtlichen Gründen alles per Email oder Cloud über die Eltern. Die mussten alle Aufgaben runterladen, sie bestenfalls verstehen, die Ergebnisse der Kinder zurücksenden und mit den Lehrer*innen kommunizieren. Wenn die Eltern nicht gut deutsch sprechen, sind diese Herausforderungen noch einmal weitaus schwieriger zu bewältigen.

Herr Laukart, Sie haben selbst als Kind mit Ihrer Familie das Land verlassen, in dem Sie fünf Jahre lang aufgewachsen sind. Hat diese Erfahrung einen Einfluss auf Ihren Unterricht?

Davon gehe ich aus. Ich habe einen großen Umbruch erlebt, hatte ein neues Umfeld und musste eine neue Sprache lernen. Ich bin mir sicher, dass das einen Einfluss auf mein Verständnis für andere hat, auch auf meine Geduld, wenn jemand mit der Sprache nicht so gut zurechtkommt. Wenn ich Schüler*innen habe, die aus Russland kommen und ich spreche sie in ihrer Muttersprache an, dann stellt das schon ein besonderes Verhältnis her. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Kinder viel über Zeigen und Nachahmen lernen. Gerade bei denen, die noch nicht so gut Deutsch sprechen.

Wie hoch ist denn der Anteil an Migrant*innen unter ihren Schüler*innen?

Eduard Laukart: Ich würde sagen, es sind knapp ein Drittel. Einige von ihnen sind nicht so gut situiert. Man sieht beim Homeschooling plötzlich die häuslichen Gegebenheiten und wie groß die Unterschiede sind. Die gibt es im alltäglichen Unterricht auch, aber jetzt werden sie offensichtlicher. In manchen Fällen gibt es keinen Computer Zuhause und manchmal auch keinen ruhigen Raum. Einige haben das Homeschooling bei uns deshalb abgewählt und sich lieber die Unterrichtsbeiträge auszahlen lassen. Aber das betraf nicht nur Familien mit Migrationshintergrund.

Frau Goette, Sie haben auf die Rolle der Eltern in dieser besonderen Zeit hingewiesen. Was bedeutet das unter dem Stichwort Bildungsgerechtigkeit?

Lena Goette: Viele Kinder waren sehr auf ihre Eltern angewiesen, die vielleicht Tag und Nacht arbeiten mussten, depressiv oder aus anderen Gründen überfordert waren. Es gab Schüler*innen, die völlig unmotiviert waren und es einfach nicht geschafft haben, sich allein hinzusetzen. Manchen Kindern hilft es, dass es in der Schule noch eine andere Instanz gibt, die etwas von ihnen sehen oder hören will und ihnen eine Tagesstruktur vorgibt. Zu einzelnen Schüler*innen hatten wir im Laufe der drei Monate kaum Kontakt. Ich habe immer wieder angeboten, bei technischen Schwierigkeiten, Aufgaben per Post zu schicken oder in den Briefkasten zu stecken. Aber wenn die Eltern sich nicht melden, kann ich wenig tun. Insofern hatten die Schüler*innen, deren Eltern sie kaum oder gar nicht begleiten konnten, große Nachteile.

Das bedeutet auch, dass die Schüler*innen im kommenden Schuljahr einen sehr unterschiedlichen Bildungsstand haben werden. Gibt es dafür Konzepte?

Lena Goette: Ich glaube viele Lehrer*innen haben keine Ahnung, wie sie mit dieser durch die Schulschließungen noch größer gewordenen Schere umgehen sollen. Einige der Kinder, die sonst immer still und zurückhaltend waren, sind im Homeschooling aufgeblüht. Sie haben sehr zuverlässig und gut zuhause gearbeitet und wünschen sich, dass es so weitergeht. Es gibt aber auch andere, die haben sich im Unterricht immer einigermaßen beteiligt, aber jetzt so gut wie nichts gemacht. Es ist also nicht zwingend so, dass diejenigen, die zuvor im Nachteil waren, das jetzt noch mehr sind. Aber diejenigen, denen das Lernen schon immer schwerfiel und die wenig von den Eltern unterstützt werden können, die sind jetzt komplett rausgefallen.

Ist das in der Schule oder seitens des Schulamtes diskutiert worden, was man für diejenigen tun kann, bei denen die notwendige Unterstützung fehlt?

Lena Goette: Nein, eigentlich nicht. Wir Lehrer*innen waren sehr auf uns gestellt. Jede*r hat getan, was er oder sie konnte und für richtig hielt. Aber da gab es große Unterschiede. Manche Lehrer*innen hatten regelmäßigen Kontakt zu Eltern, haben viele Aufgaben gestellt und auch korrigiert. Andere haben nur einmal wöchentlich etwas verschickt und auch keine Rückmeldungen der Eltern eingefordert. Die Durchführung von Videokonferenzen war für viele Neuland, nur in Kleingruppen sinnvoll und auch aus datenschutzrechtlichen Gründen schwierig. Lehrer*innen mussten sich selbst erstmal in die neue Situation hineinfinden, auch in die Kommunikation mit Eltern und Schüler*innen. Da kam die Frage, was man tun könnte, um alle zu erreichen, leider oft zu kurz oder gar nicht erst vor.