„Eigentlich ist der Staat zuständig“

Über das Engagement einer Migrant*innen-Selbstorganisation beim Homeschooling. Ein Interview mit Jana Michael von Uta Reichel (erschienen bei wirmachendas.jetzt)

Jana Michael wurde in Tschechien geboren, seit 2004 lebt sie in Stralsund, wo sie kurz nach ihrer Ankunft eine Migrant*innen-Selbstorganisation gegründet hat, die sie noch heute leitet. Die Themen, für die sie sich einsetzt, sind durch die Corona-Pandemie eher größer als kleiner geworden. Mit WIMD spricht sie über alternative Bildungsmodelle und Unterstützung von Migrant*innen.

Sie leiten den Verein tutmonde e.V., eine Migrant*innen-Selbstorganisation mit Sitz in Stralsund. Wie haben Sie als Verein auf die veränderte Situation durch das Homeschooling reagiert?

Wir haben von unserem Verein aus Nachhilfe-Unterricht in der Stralsunder Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete angeboten. Da niemand in die Unterkünfte hinein durfte, hatten wir vorgeschlagen, ein Zelt draußen aufzubauen und dort zu unterrichten. Aber das wurde uns aufgrund der Kontaktverbote und der fehlenden Möglichkeiten zum Händewaschen untersagt. Also mussten wir auf Video-Unterricht per Skype zurückgreifen. Das war nur durch die aktive Unterstützung von Ehrenamtlichen möglich, wobei es schwierig war, jemanden zu finden, der oder die Mathematik unterrichten kann. Noch schwieriger war es, überhaupt die notwendige Technik zu organisieren. Wir mussten die Computer von tutmonde in die Gemeinschaftsunterkunft bringen und dann erstmal die dortigen Mitarbeiter*innen anlernen. Zum Glück durften wir das hauseigene Internet benutzen und einen Raum, der eigentlich als Krankenzimmer dient. Wir haben einen Stundenplan geschrieben und darin festgelegt, wann welches Kind in diesem Raum Einzelunterricht durch uns per Skype bekommt. Dieser Skype-Unterricht war für viele eine Rettung. Aber wir konnten ihn natürlich nicht für alle Unterkünfte anbieten. Dafür ist eigentlich der Staat zuständig und nicht wir.

Auch viele migrantische Familien, die in eigenen Wohnungen leben, brauchten unsere Unterstützung. Viele haben keinen Laptop und wenn sie einen haben, ist oftmals die Internetverbindung schlecht oder es fehlt ein Drucker. Selbst wenn das alles vorhanden ist, braucht man immer noch Papier, Druckerpatronen und anderes. Darum haben viele Kinder und Eltern die Arbeitsblätter für die Schule bei uns im Büro ausgedruckt. Das waren bei manchen Schüler*innen bis zu 50 Seiten wöchentlich, zum Teil auch in Farbe. Das kann sich nicht jeder leisten. Deswegen sind viele auch zum Kopieren hierher gekommen.

Homeschooling wird in der Presse sehr unterschiedlich diskutiert. Die einen sehen darin eine neue Chance, die anderen eine Überforderung. Wie ist Ihre Einschätzung als Erziehungswissenschaftlerin, Supervisorin und Beraterin für geflüchtete Frauen und Migrant*innen?

Es gibt eine Reihe von Kindern, die psychisch sehr stark auf die veränderte Situation reagieren. Sie haben vermehrt Kopfschmerzen, schlafen sehr schlecht oder werden apathisch. Wir sehen mit großer Besorgnis und protestieren dagegen, dass den kleinen Kindern und ihren Eltern so etwas zugemutet wurde. Es gibt Kinder, die diese Situation als „Kriegszustand ohne Krieg“ erlebt und nur sehr schwer ertragen haben. Einige der Geflüchteten haben zu mir gesagt: „Es wird bald wie bei uns. Wir sitzen in der Schule, halten Abstand und draußen liegen überall die Toten.“

Auf der anderen Seite war Homeschooling für viele Kinder und Jugendliche ein Geschenk – kein Schulstress, kein Mobbing, keine Konflikte in der Klasse. Auch Ramadan konnten viele von ihnen dadurch problemlos mitmachen.

Ein anderes Thema ist, dass viele Geflüchtete schon vor Corona kaum Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft hatten. Sowohl Kinder als auch die Erwachsenen hatten nun lange gar keinen Ort mehr, wo sie anderen begegnet konnten, weil sie in den Unterkünften nur noch unter sich waren.

Zusätzlich wurden diese Kinder und Jugendliche gerade in dieser Zeit verstärkt von ihren Eltern in die Verantwortung gezogen, zum Dolmetschen oder bei Ämterkontakten.

Die langfristigen Auswirkungen all dessen können wir noch nicht absehen. Aber in jedem Fall müssen wir viel mehr über Kinderschutz sprechen. Auch darüber, dass Kinder in Gemeinschaftsunterkünften keine schöne Kindheit erleben und keine Sicherheit spüren – ob mit oder ohne Corona.

Mit all den Erfahrungen der letzten Monate im Hinterkopf: Was müsste sich aus Ihrer Sicht konkret an den Schulen verändern?

Eigentlich sollte man das ganze Schulsystem überdenken, weil so vieles nicht funktioniert. Die Betreuung ist sowohl in der Kita als auch in der Grundschule einfach nicht ausreichend. Der Schlüssel pro Gruppe ist viel zu groß, weil immer jemand krank ist oder Urlaub hat. Das ist für alle Kinder schwierig, egal ob sie eine migrantische oder eine Fluchtgeschichte haben oder ob es deutsche Kinder sind.

Oft gibt es in den Schulen keine guten Beziehungen zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen, aber auch untereinander. Für viele Kinder war das Homeschooling daher ein riesiges Geschenk. Auch die Möglichkeit, mit den Lehrer*innen selbst ins Gespräch zu kommen, sich etwas erklären zu lassen, war für viele eine neue und sehr positive Erfahrung. Es gab eine Reihe von Lehrer*innen, die unglaublich tolle Ideen hatten und sehr engagiert waren. Eine etwa hat ihre Schüler*innen aus einem leerstehenden Hotel heraus unterrichtet, weil sie dort eine gute Internetverbindung hatte und ungestört war. Ein anderer hat sich mit einer großen Tafel vor das Haus seines Schülers gestellt und ihm die Mathematikaufgaben erklärt. Es sollte auch nach Corona so sein, dass Kinder individuell gefördert werden und die Lehrer*innen nach individuellen Lösungen suchen.