#01: Keine Armut – Isabelle Rogge

Warum habe ich die Empfehlung bekommen, mit dir über das Thema Armut zu sprechen?

Ich habe einen TedxTalk gehalten: Gegen Armut hilft Geld. In dem Talk erzähle ich meine Geschichte, um meine These persönlich und exemplarisch zu untermauern. Wie der Titel vermuten lässt, geht esdarum, dass gegen Armut Geld hilft – Unbürokratisches Geld. Das ist meine These, die sich aktuell sogar bewahrheitet, weil wir das an den Zahlen zur Kinderarmut beobachten können. Der Paritätische Wohlfahrtsverband spricht von markanten Rückgängen für das Jahr 2023:

„Hier fiel die Armutsquote von 21,8 auf 20,7 Prozent, bei den Alleinerziehenden von 43,2 auf 41 Prozent und bei Paarhaushalten mit 3 und mehr Minderjährigen von 32,1 auf 30,1 Prozent.

Nach Auffassung des Hauptgeschäftsführers des Verbandes zeige dies, dass Maßnahmen wie die Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag, Verbesserungen beim Wohngeld und beim BAföG und insbesondere die Heraufsetzung des gesetzlichen Mindestlohnes durchaus armutspolitisch Wirkung zeigten“

In meinem TedX-Talk erzähle ich, dass ich in relativer Armut aufgewachsen bin und wie ich diese sowohl in meiner Kindheit, als auch später wieder im Studium erlebt habe.

Mein Vater ist gestorben, als ich elf Jahre alt war. Dieser Fakt hat dazu geführt, dass meine Mutter Erziehungsrente und meine Schwester und ich Halbwaisenrente bekommen haben. So hatten wir plötzlich mehr Geld als zuvor. Wenn ein Elternteil stirbt, ist es in den meisten Familien eher so, dass sie in eine finanzielle Schieflage geraten. Bei uns war das paradoxerweiseandersherum: Das bis heute schlimmste Ereignis meines Lebens führte dazu, dass wir zum ersten Mal soziale Teilhabe außerhalb von Klassenräumen erfahren konnten. Meine Mutter konnte mich in die Tanzschule schicken. Wir konnten auch mal Geld für Dinge sparen, ins Kino gehen.

Außerdem gehe ich in dem Talk auf Klassismus ein. Anhand dessen und an meiner Geschichte erkläre ich, warum es wichtig ist, dass wir Menschen, die Armut erfahren, unbürokratisch Geld geben. Weil das überhaupt erstmal eröffnet, aus der Armut zu gelangen.

Was heißt das, dass du in relativer Armut aufgewachsen bist?

Es gibt relative und absolute Armut. Absolute Armut ist die, in der Menschen von nicht mal zwei Euro am Tag leben1. Sie haben Schwierigkeiten, sich zu ernähren, haben eventuell kein Dach über dem Kopf. Relative Armut ist immer in Relation zu sehen: Wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens – also des mittleren Einkommens – hat, gilt mindestens als armutsgefährdet 2023 lag der Schwellenwert laut dem statistischen Bundesamt für eine alleinstehende Person in Deutschland bei 1310 Euro im Monat2.

Die meisten Menschen in Deutschland, die Armut erleben, leben in relativer Armut. Sie haben wahrscheinlich eine Wohnung, Kleidung und Essen – vielleicht müssen sie auch zur Arche gehen, aber nicht zwingend. Wir hatten beispielsweise kein Auto, und konntennicht in den Urlaub fahren oder Musikunterricht nehmen. Wir konnten nicht genauso sozial teilhaben wie andere Personen.

Ich bin die jüngste von vier Geschwistern. Und gerade Familien mit drei oder mehr Kindern und Alleinerziehende sind am meisten von Armut betroffen. Und das, obwohl alleinerziehende Elternteile – und eben besonders Mütter – statistisch mehr in Vollzeit arbeiten als Frauen in Paarbeziehungen. Vorausgesetzt, es gibt adequate Betreuungsplätze für die Kinder. Deshalb müssen wir generell auch fragen, wie familientauglich überhaupt unsere Gesellschaft ist. Unter Alleinerziehenden beträgt die Armutsquote wie gesagt 41 Prozent. Es ist eine der am stärksten wachsenden Familienformen. Also wäre uns eigentlich gut daran gelegen, für diese Familien ein gutes Leben herstellen zu wollen.

Was hat sich konkret für euch geändert, als ihr mehr Geld hattet?

Meine Mutter konnte auf einmal auf Geld zählen. Es wurde kalkulierbarer für sie, sie musste keine Anträge mehr stellen. Wir konnten auf einmal wirtschaften und haushalten. Es gab eine Planbarkeit. Das ist wichtig. Eltern, die Bürgergeld erhalten und Kinder haben, haben beispielsweise ein Anrecht darauf, Geld für Sportvereine zu erhalten. Das sind aktuell 15 Euro im Monat. Dieses Geld wird derzeit nur wenig abgerufen, weil es eben viel Aufwand ist. Das führt dazu, dass die Politik sagt: Das Geld möchte niemand haben. Das ist ein Teufelskreis.

Wenn wir dann nochmal darüber nachdenken, was Sprache ausmacht, ist das nochmal eine andere wichtige Dimension. Bürokratische Sprache ist ja bereits für deutsche Muttersprachler:innen sehr schwierig zu verstehen. Ich zum Beispiel wusste im Studium wenigstens, dass ich, wenn das Bafög ausläuft, ein Anrecht auf Wohngeld habe. Wenn man das nicht weiß und auch nicht weiß, wie man es bekommt, kann das alles ein Grund sein, einen solchen Schritt wie ein Studium zu beginnen, nicht zu gehen. Auch ich habe erst mit 24 studiert, weil ich viel zu große Angst hatte, direkt nach dem Abitur zu studieren. Weil ich dachte, ich könnte mir das nicht erlauben. So habe ich zunächst eine Ausbildung gemacht und danach im Berufsleben Geld angespart. Das ist übrigens in Biografien von Menschen aus einkommensschwachen Verhältnissen häufiger zu erkennen: Dass sie länger brauchen und deshalb auf dem Berufsmarkt wiederum schlechtere Chancen haben.

Allein die Bearbeitung des Bafög-Antrags hat ein halbes Jahr gedauert. Hätte ich kein Polster zwischendrin gehabt, um das abzufedern, hätte ich mein Studium nicht antreten können.

Gehen wir einmal kurz zu dem anderen Begriff, den du schon genannt hast. Was ist Klassismus?

Klassismus hat zwei Dimensionen. Es ist eine Diskriminierungsform aufgrund entweder der sozialen Herkunft oder aufgrund der derzeitigen sozialen Position. Es ist also eine Diskriminierungsform ähnlich wie Rassismus, Sexismus oder Ableismus, allerdings vielen Menschen noch recht unbekannt. Ich selbst kenne den Begriff auch erst seit maximal 5 bis 6 Jahren. Das heißt, ich musste auch erst lernen, dass ich von Armut und damit von struktureller Diskriminierung betroffen war. Erst mit dem Bildungs- und /oder Klassenaufstieg habe ich wirklich verstanden, wie fehlerhaft das System ist und man nicht selbst etwa ein Systemfehler ist. Und das ist eigentlich mein Hauptwunsch: Dass Menschen verstehen, dass es ist nicht an ihnen liegt, sondern an dem System, das man das verändern muss, damit Menschen aus dieser Diskriminierung herauskommen. Denn der Klassismus ist in einer kapitalistischen Welt immer schon da. Da haben Klassenübergänger:innen, die beide Welten kennen, sehr großes Potential zu vermitteln. Weil es eben nicht damit getan ist, dass man selbst den Aufstieg geschafft hat. Das ist auch ein wenig ein Narrativ, dem man verfallen kann – und was ich auch ein bisschen von mir kenne. Die ersten Jahre denkt man vielleicht: Das ist cool, dass ich das mit viel harter Arbeit geschafft habe. Erst, wenn man es dann reflektiert, merkt man, dass es vielleicht auch glückliche Ereignisse, Chancen, Zufälle gab. Und eben nicht jede:r es „von sich aus schaffen“ kann. Und wir müssen auch vermitteln, weil es offenbar oft zu schwierig ist für Menschen, die nie Klassismus erlebt haben, zu verstehen, was er bedeutet.

Das heißt, du siehst dich in einer Art Vermittlungsposition?

Ja. Damals an der Uni habe ich in meinem Hauptfach Deutsche Philologie zwar schnell Leute kennengelernt, die ähnlich sozialisiert waren wie ich. Im ersten Semester gab es aber zum Beispiel ein Seminar, in dem ein Professor am Anfang immer Zitate aus irgendwelchen Büchern abgefragt hat, wer sie denn kenne. Da ist mir aufgefallen: Ich kannte die meisten Titel nicht mal. Was die Frage aufwirft: Welche Bildung ist eigentlich die richtige? Hätte er nach Charts der 90er und 2000er gefragt, hätte ich richtig abliefern können.

Nachden Philosophiekursen bin ich meistens schnell wieder gegangen, weil ich dort keine Freund:innen hatte. Das Fach hat mir richtig viel Spaß gemacht und ich hatte sehr gute Noten. Trotzdem habe ich mich zwischen einigen der Kommilitonenfehl am Platz gefühlt. Sie hatten einen ganz anderen Habitus, also Einstellungen, Gewohnheiten, Werte und Verhaltensweisen, weil sie von klein auf anders sozialisiert waren als ich. Deshalb ist es wichtig, in den akademischen Strukturen zu einem Umdenken anzuregen.

Ich arbeite u.a. als freie Dozentin für Wissenschaftskommunikation, habe also ganz viel mit Akademiker:innen zu tun. Ich würde aber gern noch viel mehr mit Menschen machen, die aus anderen Bildungsschichten kommenz.B. aus Arbeiterhaushalten wie ich. In meinem Podcast Halbwaisheiten spreche ich mit diversen Persönlichkeiten auch über Klasse. Da gibt es also schon einen Raum dafür.

Diese Ausgrenzung zu erfahren ist auch eine Dimension von Klassismus?

Absolut. Wir sehen Klassismus anhand von der Diskriminierung von Menschen, die zum Beispiel wohnungslos sind, von arbeitslosen Menschen, Menschen, die vielleicht einfach andere Kleidung tragen. Das kann ja in der Schule schon ein Grund von Diskriminierung sein. Das Herabblicken auf und dieses Framing von arbeitslosen Menschen als faul, das ist ja total verbreitet. Und das ist tatsächlich auch etwas, was völlig falsch ist. Wenn wir uns mal die Demographie der Menschen anschauen, die in Armut leben, dann sind noch nicht mal 5 Prozent von ihnen erwerbslos3. Und auch dafür gibt es ja oft gute Gründe. Die meisten Menschen, die in Armut leben, sind Rentner:innen. Menschen, die lange in unserem System gearbeitet haben und trotzdem teilweise Anrecht auf Aufstockung haben, weil die Rente nicht reicht. Zu den Menschen in Armut gehören aber auch ganz viele Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Dann gibt es einen ganz großen Bereich „sonstige“. Darunter fallen viele Menschen, die Pflegeverantwortung tragen. Wenn man sich dazu entscheidet – meistens sind das ja auch Frauen oder Mütter – Kinder oder Alte zu pflegen, dann geht man ein großes Armutsrisiko ein. Dabei leistet man eigentlich für den Staat Arbeit, die nicht entlohnt wird. Und dann haben wir noch ganz viele Menschen, die arbeiten gehen, aber aufstocken müssen, weil der Mindestlohn zu niedrig ist. All diese Gruppen können Diskriminierung ausgesetzt sein.

Deshalb ist jede dieser Stimmen valide, wenn es um Klassismus und Armut geht?

Ja. Es geht ja nicht darum, sich gegeneinander auszuspielen, sondern es geht darum, gleiche Chancen und Chancengerechtigkeit für alle herzustellen. Das muss man immer wieder betonen. Auch ich habe lange gedacht, ich könnte Interviews zum Thema Armut nicht annehmen, weil es mir ja im Verhältnis nicht so schlecht ging, obwohl wir in relativer Armut aufgewachsen sind. Es ist schwierig, dieses Gefühl wegzubekommen, denn niemand möchte gern arm genannt werden. Deshalb nutzen Betroffene auch lieber den Ausdruck „von Armut betroffen sein”. Interessanterweise sehen wir sowohl bei Menschen in Armut als auch bei reichen Menschen, dass sie sich oft mit der Mitte einer Gesellschaft identifizieren oder zumindest identifizieren wollen.

Warum ist es dann aber so, dass wir momentan extrem beobachten können, dass nach unten getreten wird statt nach oben?

Ich habe gerade das Gefühl, dass wir in fast allen Parteien – auch in den demokratischen – sehen, dass sie rechte Rhetorik teilweise übernehmen. Das nach unten Treten auf politischer Ebene kann ein Versuch sein, sich Wählerschaft zu angeln. Das ist leider total gefährlich. Studien zeigen: Je größer die Arm-und-Reich-Schere auseinandergeht, je schlechter es der unteren Bevölkerungsgruppe geht, desto schneller geht der Rechtsruck, weil sich die Menschen dann leichter radikalisieren oder eben nicht mehr wählen gehen. Jetzt sehen wir, dass der ambitionierte Koalitionsvertrag unter einem sozialdemokratischen Kanzler, der von Kindergrundsicherung bis Bürgergeld vieles versprochen hat, so gar nicht umgesetzt wird. Im Gegensatz dazu sehen wir, dass die Menschen, die in hohem Maße Steuern hinterzogen haben – wie im Fall der Panama Papers oder Cum Ex Geschäfte freigesprochen werden. Da scheint es zu kompliziert, die Menschen zur Rechenschaft zu ziehen.

Bürgergeld-Empfänger:innen werden hingegen krass sanktioniert. Da war der Staat 2023 hinter 16.000 Bürgergeldempfänger:innen her4, um bei ihnen vergleichsweisePeanuts einzustreichen. Das ist etwas, das die großen Teile der Bevölkerung, die „unten“ stehen gezielt weiter verunsichert und verängstigt, weil sie besonders gebeutelt wir in einer von der Inflation sind und in die negativen Auswirkungen der multiplen Krisen am härtesten erleben. Wenn Menschen, die reich sind, die Inflation spüren, dann spüre ich es unten noch stärker. So kann es für viele gerade schwierig sein, nicht den Glauben an die Demokratie zu verlieren.

Wen siehst du da in der Verantwortung für Veränderung?

Politisch würde ich mir zunächst einmal wünschen, dass diese Themen anhand von Fakten und Studien – die es alle gibt – wissenschaftsbasierter diskutiert werden. Zum Beispiel – um auf den Anfang zurückzukommen – gibt es keine Studien dazu, dass wenn man Menschen in Armut Geld gibt, sie es nicht dafür nutzen, um Perspektiven und Chancen für sich oder ihre Kinder zu verbessern. Wir müssen darauf vertrauen, dass Menschen in Armut das Beste für ihre Kinder wollen, so wie die Gesellschaft das bei reichen Menschen auch tut. Also, wir brauchen eine ordentliche Kindergrundsicherung. Und natürlich muss der Mindestlohn stark erhöht werden. Dann müssten viele Menschen gar nicht mehr aufstocken und können von ihrem Lohn leben.

Das klingt sinnvoll. Wo gibt es noch Potential?

Vielleicht fangen wir schon bei einer Sprache an, die nicht mehr von „sozial schwachen” Menschen spricht. Wir erleben ja viel mehr, dass Familien, die wenig Geld haben, sozial total stark sind, weil sie sich gegenseitig unterstützen müssen und weil da kein anderes Netz ist. Gut wäre auch, wenn ein problematischer Begriff wie „asozial“ nicht inflationär gebraucht würde. Das Wort geht sehr vielen Menschen leicht von den Lippen, wenn sie ein unsoziales Verhalten meinen. Und das obwohl die Nationalsozialisten den Begriff “asozial” benutzt haben, um z.B. obdachlose Menschen, Bettler:innen, Sexarbeiter:innen, Sinti:zze und Rom:nja zu verfolgen und in Konzentrationslager zu schicken. Es ist wirklich wichtig, dass wir bei einer gerechten Sprache anfangen, um darüber Menschen nicht mehr zu diskriminieren und zu stigmatisieren.

Auch wichtig.

Und wir dürfen uns nicht nur unserer Privilegien bewusstwerden, wir müssen auch entsprechend handeln. Zum Beispiel als Unternehmer:in oder Führungskraft. In so einer Position habe ich die Möglichkeit, mehr Chancengerechtigkeit herzustellen. Zahle ich meinen Mitarbeitenden wirklich faire Löhne? Oder verdienen Menschen aus Akademikerfamilien mehr als Menschen aus Arbeiterhaushalten, obwohl sie die gleiche Tätigkeit ausüben? Hat überhaupt jemand ohne Studium Chancen auf Jobs mit guten Gehältern? Und für welche Jobs braucht man wirklich ein Studium? Sind die Gehälter der Firma transparent? Und falls man sogar den Luxus für Personal im Haushalt besitzt:Wie viel Wert bemesse ich den Menschen bei, die für mich arbeiten, damit ich arbeiten und mehr Geld als sie verdienen oder mehr Freizeit haben kann? Ist das nur der Mindestlohn oder mehr? Und reicht das Geld hochgerechnet überhaupt für ein Leben über der Armutsschwelle?

Es ist nicht das Geld, was von alleine arbeitet, sondern es sind Menschen, die das für andere tun.

Und nochmal politisch gefragt: Warum gibt es in so einem reichen Land wie unserem überhaupt so viele Menschen, die in relativer oder absoluter Armut leben?

Es ist definitiv auch ein Verteilungsproblem. Wir müssen reiche Menschen mehr und Menschen mit wenig Geld weniger besteuern. Es ist total schade, dass das nicht angegangen wird, weil es machbar wäre. Die Schweiz erwirtschaftet mit einer Vermögenssteuer z.B. sieben Prozent ihrer jährlichen Steuereinnahmen5. Und Deutschland hatte bis 1996 auch eine Vermögenssteuer, die dann aber ausgesetzt wurde. In einer Studie vom Netzwerk Steuergerechtigkeit mit Oxfam heißt es, dass den deutschen Finanzämter dadurch in den letzten 30 Jahren 380 Milliarden Euro entgangen sind6. Der US-Bundesstaat Massachusetts hat für das Steuerjahr 2023 eine Millionärssteuer eingeführt. Bis zuletzt haben Konservative davor gewarnt, dass jetzt die Millionär:innen abwandern werden. Das ist ja immer das Argument, weshalb man sich das nicht traut: Weil man Angst hat, dass reiche Menschen dann woanders hinziehen. Das ist überhaupt nicht eingetreten. Der Staat hat jetzt mehr in der Kasse als erwartet und kann das Geld zum Beispiel in Schulen investieren. Man hat mit diesem positiven Effekt nicht gerechnet. Ich bin mir sicher, wir könnten weniger Armut und eine gerechtere Gesellschaft haben, wenn die Politik sich trauen würde, solidarische Modelle zu entwerfen und umzusetzen.

Manchmal glaube ich, dass man sich einfach keine bessere Zukunft vorstellen kann und es nicht wagt, solche Dinge auszuprobieren. Gleichzeitig sind Politiker:innen viel in ihren eigenen Kreisen unterwegs und verstehen die existenziellen Sorgen und Probleme der Bevölkerung einfach nicht: Wer in der Politik hat denn wirklich Armutserfahrungen? Das sind geringe Prozentsätze. Wir brauchen Menschen, mit diversen Lebensrealitäten und Hintergründen, die selber vielleicht auch nicht studiert haben, die wissen, wie das ist, mit wenig Geld auszukommen.

Möchtest du abschließend noch was sagen?

Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft die Erzählung unserer Leistungsgesellschaft in Frage stellen. Welche Leistung ist uns wie viel wert? Warum schützen wir heutzutage leistungsloses Vermögen, aber nicht Rentner:innen, Kinder, Pflegende, Menschen mit Behinderungen oder Fluchterfahrungen? Warum sind Häuser und anderer Besitz mehr wert als Menschen? Und wie können wir das ändern?

  1. Absolute Armut: Weniger als 2,15 US-Dollar am Tag
    Absolute Armut bedeutet, dass ein Mensch aus materiellen Gründen nicht in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Bis September 2022 galt der Weltbank zufolge als extrem arm, wer weniger als 1,90 Dollar pro Tag und Person zur Verfügung hatte. Seit September 2022 liegt die Grenze bei 2,15 Dollar pro Tag und Person. Dieser Betrag gilt als finanzielles Minimum, das ein Mensch zum Überleben braucht
    Umrechnung am 13. Juli 2024:  ↩︎
  2. 2,15 US-Dollar entsprechen ungefähr 1,87 Euro, basierend auf einem beispielhaften Wechselkurs von 1 USD = 0,87 EUR.
    2023 lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland netto (nach Steuern und Sozialabgaben) bei 1 310 Euro im Monat (Äquivalenzeinkommen), für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren lag er bei 2 751 Euro im Monat. ↩︎
  3. Bildquelle: https://www.der-paritaetische.de/themen/sozial-und-europapolitik/armut-und-grundsicherung/armutsbericht/#gallery-23666-3. Mit Erklärungen hier im ganzen Armutsbericht: https://www.der-paritaetische.de/themen/sozial-und-europapolitik/armut-und-grundsicherung/armutsbericht/ ↩︎
  4. https://www.tagesschau.de/inland/buergergeld-regelsatz-kuerzung-100.html#:~:text=Wegen%20Ablehnung%20von%20Arbeitsangeboten%20oder,BA)%20auf%20ihrer%20Webseite%20mit. ↩︎
  5. https://taz.de/Milliardaere-zahlen-in-der-Schweiz-mehr/!6002066/#:~:text=Wirksame%20Schweizer%20Verm%C3%B6gensteuer&text=Mit%20einem%20j%C3%A4hrlichen%20Aufkommen%20von,sich%20aus%20den%20kantonalen%20Erbschaftsteuern ↩︎
  6. https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/keine-angst-vor-steuerflucht/ ↩︎